Ortler Report 2006
7. Tag: Im Hintern Eis (3270 m) und Grawand (3251 m), der
siebte und achte 3000er
Am Morgen starten wir von Kurzras mit der Seilbahn hoch zur Bergstation
Grawand. Im Lift sind wir die einzigen Wanderer, sonst nur Skifahrer
und Snowboarder, denn ganzjährig gondeln hier Wintersportler
ins Gletscherskigebiet des Hochjochferner nördlich der Grawand.
Unser Plan für heute sah eigentlich anders aus. Von Kurzras
aus wollten wir den 3000er in Nähe des bekannten Ötztaler
Berges Weißkugel names „Im Hintern Eis“ besteigen.
Dieser Gipfel gilt als einfach, aber anstrengend, 1200 Hm von Kurzras
aus – und aufgefallen ist er uns einzig durch seinen interessanten
Namen, der ja zunächst nicht sonderlich einladend klingt. Von
dort wollten wir hinüber zur Grawand, um den Abstieg dann anschließend
mit der Bahn vornehmen zu können. Heute Morgen ist es jedoch
wolkenlos, die Luft ist klar und verspricht eine gute Fernsicht.
Also gehen wir die Route einfach umgekehrt, auch wenn die Grawand,
dann eigentlich nicht als bestiegen gilt. Egal, die Fernsicht ist
zu verlockend – und so sehen wir wenig später den Gipfel
schon unmittelbar vor uns. Von der oberen Station sind es nur 50
Höhenmeter zum Scheitelpunkt – auch hier fiel letzte Nacht
wieder Neuschnee, so dass der Weg recht rutschig ist, bei den Abgründen
rechts und links kann es einem da schon mulmig werden. Den Gipfel
teilen wir uns heute mit zwei weiteren Wanderern. Die Aussicht ist
grandios. Die weiß gekrönten Ötztaler Berge erheben
sich stolz vor dunklem Blau. Im Westen die spitze Weißkugel,
im Norden die Wildspitze – beide mit über 3700 m Höhe.
Im Osten die Finailspitze. Dahinter der berühmte Similaun, wo
Bergsteiger 1991 die Gletschermumie oberhalb des Niederjochferners
auf 3210m Höhe fanden. „Ötzi“ suchte vor 5000
Jahren vom Schnalstal aus einen Weg über die Gletscher nach
Norden.
Dazwischen unzählige weitere Zinken mit vergletscherten Hängen
bis weit in die Talsohlen. Besonders die Gletscher Hochjochferner und
Kreuzferner reichen noch weit hinab, wenn auch nicht mehr der Karte
entsprechend, sondern leider schon weit kleiner. Im Süden entdecken
wir alte Bekannte. Die Giganten Ortler, Monte Zebru, Königsspitze
und Monte Cevedale überragen hier den Vinschgau. Nach ausgiebiger
Film und Fotosession machen wir uns auf den Weg zum eigentlichen Tagesziel.
Laut Karte führt der Weg zur Schönen-Aussicht-Hütte
eigentlich den Gletscher hinab, inzwischen aber über dessen Möränenfelder
links vorbei. Ohne Neuschnee könnte man hier sogar einen weiteren
Gipfel, die Graue Wand (3202 m) mitnehmen – heute ist der Pfad
aufgrund des Schnees leider unauffindbar. Wir folgen daher dem unseren
weiter bis zum Einstieg in den gut gesicherten und hier auch schneefreien
Steig. Dieser führt uns nach vielen Kletterpassagen, die jedoch
recht leicht einzustufen sind, hinab bis zum Gletschersee des Hochferners.
Erstmals mache ich hier die Erfahrung, wie schnell man auf dem Hosenboden
rutschen kann, wenn man auf einem verharschten Gletscher den Halt verliert.
Nachdem das Gelächter nach dieser Übung sich gelegt hat,
steigen wir weiter zur vor uns liegenden Rifugio Bellavista hinauf,
der italienische Name unseres Zwischenziels. Von Grawand bis hierher
waren es knapp 1,5 h Gehzeit.
„Bellavista“ ist nicht übertrieben. Die Hütte
ist auch für Turnschuh-Wanderer direkt von Kurzras im Schnalstal
aus in reichlich 2 Stunden auf guten Saumwegen erreichbar. Mit Blick
auf die Eisfelder von Hochferner und Kreuzferner sowie auf die Gipfel
Grawand,. Graue Wand und Schwarze Wand kann hier jeder ein hochalpines
Erlebnis genießen. Zudem arbeiten hier nette junge Italienerinnen – wohl
Studentinnen, die ihre Semesterferien hier verbringen – beneidenswert.
Von der Hütte aus den Markierungen und Steinmännern folgend
führt der Weg über die Geröllflächen und Gletscherschliffe
der Jochköfel weiter aufwärts zu den Moränenfeldern
ab 3100 m Höhe. Wir sind heute nicht die einzigen Gipfelstürmer,
3 Gruppen sind vor uns, 2 kommen uns entgegen. In etwa 3100 m scheint
der Gipfel erreicht, zumindest scheint der dortige Steinhaufen das
Ziel der Wandergruppe zu sein, die wir hier einholen. Der eigentliche
Gipfel des „Im Hintern Eis“ wird hier aber erst sichtbar.
Der Weg schlängelt sich nun nach links flach an den Südfuß des
Gipfels und über Trümmer und Schnee steil hinauf zum höchsten
Punkt. Die Mühe wird belohnt. Und es ist jetzt der siebte 3000er
in dieser Woche, auf dem wir stehen.
Auf dem „Im Hintern Eis“ haben wir mit solch eisigen Temperaturen
nicht gerechnet, aber wir lassen uns von einem vielleicht doch wahren
Hintergrund des Namens nicht abschrecken – das Erlebnis ist überwältigend,
wir saugen die Eindrücke förmlich auf: Wolkenformationen
jagen vorüber. Zum Greifen nahe. Die Luft ist klar, schmeckt frisch
und sauber. Absolute Stille, nur hin und wieder der Ruf einer Dohle.
Die Zeit scheint still zu stehen. Und einsam ist es, aber schön
einsam. Gegenüber ein gigantischer Berg, die Weißkugel mit
ihrer 300 m hohen Gipfelflanke aus Fels und Eis. 3700 m hoch ist der
Riese. Darunter entspringt ein mächtiger Gletscher. Spaltenreich
mit wilden Eisbrüchen schiebt er sich kilometerweit talabwärts.
Die Kälte des „Hintereisfernes“ lässt uns frösteln.
Von diesem Gletscher leitet sich auch der Name unseres Ziels ab, scheint
aber eher irrtümlich von einem Kartografen so benannt zu sein,
denn Derartiges klingt eher nach einem Flurname, bezeichnet aber nie
einen Gipfel. Egal, „Im Hintern Eis“ droht wohl jedem,
der sich hier zu lange aufhält. Im Gegensatz zum seltsamen Namen
ist dessen Lage sehr reizvoll. Den Berg kennzeichnet im Westen und
Norden eine 350 m hohe Fels- und Eisflanke, während Moränenfelder
und Gletscherschliffe die Süd- und gleichzeitig Aufstiegsseite
prägen. Im Norden krönt jetzt ganz nah die Wildspitze mit
ihren zahlreichen Vorgipfeln das eindrucksvolle Bild. Im Westen die
Weißkugel – beide über 3700 m hoch.
Eine ganz andere Welt, fast unwirklich, lebensfeindlich und fern von
Allem. Fern vom Leben, das wir tief unten im Tal zurückließen.
Im Schnalstal, das idyllisch, wie die Landschaft einer Modelleisenbahn
unter uns liegt.
Der
Gipfel lässt mich absolute Freiheit fühlen, ein befreit
sein von allem. Hier wird mir der Grund für die einzigartige „Bergfaszination“ bewusst.
Es ist die unbeschreibliche Vielfalt der Gegensätze, die man hier
mit allen geschärften Sinnen wahrnimmt. Extreme Höhen und
Tiefen, Ruhe und Wildheit zugleich, Abenteuer und Entspannung, Harmonie
und Chaos. Kälte und Wärme, Vergänglichkeit und Beständigkeit,
Angst und Wohlbefinden. Alles extrem nahe beieinander.
Das Naturerlebnis ermöglicht ein Verlassen des Alltags, wie es
woanders kaum möglich ist. Und ein gestärktes Selbstbewusstsein.
Ich habe mich selbst entdeckt, gleichzeitig aber auch „Urlaub“ von
mir selbst gemacht. Das Ziel ist die Rückkehr ins Tal, zurück
zur Familie, zurück ins alltägliche Leben – mit freiem
Geist im Gepäck - und dem Gefühl, etwas oben gelassen zu
haben.
Den
letzten Weg zum Gipfel hinauf hatten nur noch drei andere Gipfelsuchende gewagt, nach gegenseitiger Beglückwünschung treten diese
jedoch schnell wieder den Rückweg an, weil im Westen schlechtes
Wetter aufzuziehen droht. Wir genießen erstmal jedoch ausgiebig
den Ausblick, bevor wir den langen 1200 Hm –Abstieg angehen.
Bald erreichen wir dann über die gleiche Route wieder die Schöne-Aussicht-Hütte,
die wir für eine weitere Pause nutzen. Der Abstiegsweg ist anschließend
wirklich leicht, da breit angelegt. Jedoch lang und aufgrund des Höhenunterschiedes
für unsere Knie sehr belastend. Unterhalb der Steinschlagspitze
und des Hasenkopfs führt der Saumweg erst nach Westen auf die
andere Talseite, dann dort immer oberhalb des Bacheinschnitts bleibend
hinab ins Tal bei Kurzras. Die letzten Höhenmeter legen wir im
schmerzenden Eilschritt zurück, um nicht unangenehm vom Gewitter,
das bereits den Vinschgau hinauf grollt, überrascht zu werden.
In letzter Sekunde erreichen wir trockenen Fußes den Parkplatz
und retten uns in unseren Wagen. Wir beschließen nach Sulden
zurückzukehren, um am nächsten Tag einen der vorgelagerten
Gipfel des Ortlers zu besteigen – die Tabarettaspitze.