Ortler Report 2006
6. Tag: Vordere Rotspitze (3033 m), der sechste 3000er
Die
Vordere Rotspitze (3033m) gilt als Aussichtsplattform vor der Gebirgskette
zwischen Cevedale, Veneziaspitze und Hintere Rotspitze - das ideale
Ziel für uns heute. Und eine körperliche Herausforderung.
1000 Höhenmeter Aufstieg! Gehzeit laut Wanderführer drei
Stunden.
Bei
schönstem Sonnenschein starten wir vom Parkplatz der Enzianhütte
am Talende hinter dem türkisblauen Zufrittsee. Vom Parkplatz am Straßenende
geht es über
den klammähnlichen Fluß Plima am ehemaligen
Hotel Paradies vorbei über
kleine stille Bergwege. Diese schlängeln sich durch den Wald mit
dem schönen Namen Paradiso di Cevedale – dann über
eine Talstufe auf den folgenden „Boden“. Die Höhenmeter
sind sehr schweißtreibend, dies und das schöne Wetter laden
zu Pausen in weichem Gras ein, um in Ruhe den tollen Blick auf Cevedale & Co.
genießen zu können.
Gegenüber
blicken wir ins Madritschtal und erspähen in der Ferne die Hintere
Schöntaufspitze, die
wir Tage zuvor bei weit schlechterem Wetter bestiegen
hatten. Weiter führt uns der Pfad Nr. 31 durch stark geliedertes,
teilweise felsdurchsetztes Gelände über Stufen und kleine
Einschnitte und Tälchen
in das Kar westlich des Gipfels. Die letzten 100 Höhenmeter werden
sehr steil und anstrengend, der Steig führt durch eine mit Stahlseil
gesicherte Rinne hinauf. Der Fels und Schutt ist sehr lose und rutschig – doch
endlich ist der Gipfel erreicht. Er belohnt uns mit einem
einzigartigen Gipfelpanorama.
Im Osten liegt der Gramsenferner
mit der Hinteren Rotspitz direkt vor uns. Rechts daneben drei weitere
Gletscher am Fuße des dreigipfeligen
Kamms der Venezia-Spitze. Und im Südwesten thront der vergletscherte
Monte Cevedale in seiner ganzen Pracht. Mit 3.778 m dritthöchster
Gigant der Ortlergruppe. Noch heute sind Reste militärischer Stellungen
aus dem 1. Weltkrieg bis hoch zum Gipfelgrat sichtbar.
Himmel und Eisfelder scheinen hier ineinander überzugehen. Am
Dach der Welt scheint Vieles näher beieinander. Das vergletscherte
Bergmassiv strahlt Kälte während die Sonne gleißend
brennt. Eine seltsame Harmonie und Ruhe bei doch
landschaftlicher Wildheit und augenscheinlichem Chaos. Entsprechend
die Berg- und Talfahrten
der Gefühle zwischen Furcht und Freude.
Unseren 45minütigen Gipfelaufenthalt beenden wir nur, weil die
Wettervorhersagen für den Nachmittag Gewitter meldeten. Trotzdem
wählen wir eine andere Abstiegsroute in Richtung Südwesten,
um eine abwechslungsreiche Tour perfekt zu machen. Ich muss zugeben,
es war meine Idee, der sich Stefan zunächst nicht begeistert anschloss.
Der hiermit verbundene Umweg sollte uns noch zum Verhängnis werden.
Nach der Steilrinne, die beinahe einem anderen Bergwanderer zum Verhängnis
wird, weil wir versehentlich einen Felsbrocken lostreten, folgen wir
Weg 37a über gewaltiges Blockwerk, Platten und Schutt, was einst
größere Gletscher in haushohen Wällen liegen ließen.
Dementsprechend führt der Weg auf und ab – nach unserem
anstrengenden Aufstieg eine zusätzliche Mühe. Vorbei am kleinen
Gipfel der Schranspitze, den wir kurzerhand besteigen, geht es weiter
noch immer ohne merklichen Höhenverlust – bis es schließlich
zu Donnern anfängt und Cevedale & Co. in dunkle Wolken gehüllt
wird. Die ersten Regen und Hagelkörner treffen uns, als wir dem
Pfad nun über einen sehr lang gezogenen Kamm talabwärts folgen.
Das Gewitter scheint nun direkt vor uns – es donnert und blitzt
ringsherum – wir befinden uns ausgerechnet völlig schutzlos
auf diesem Kamm. Glücklicherweise halten sich die Blitze in Grenzen,
dafür nimmt der Regen stetig zu und hat binnen 20 Minuten die
Hosen völlig durchnässt. Wir steigen in irrsinniger Geschwindigkeit
die steile Talstufe hinab und erreichen bald den Wald, dann irgendwann
den rettenden Parkplatz. Das war fast schon ein Blitzabstieg. Unser
Wagen ist einer der letzten dort und so verlassen wir das Tal völlig
durchnässt wieder in Richtung Vinschgau.
Unser Fahrziel: das Schnalstal, wo uns morgen die Ötztaler Gipfel
erwarten. Aus dem Martelltal fahren wir hinunter in den Vinschgau,
dann über Latsch in Richtung Naturns im Südwesten. Dort geht’s
links sehr unscheinbar ins enge Schnalstal. Dieses vom Massentourismus
fast unberührte idyllische Tal bietet Zugänge in die Texelgruppe
und vom Süden hier in die Ötztaler Alpen. Der bekannte Ötzi
versuchte einst von diesem Tal aus die Ötztaler Gletscher nach
Norden zu überqueren. Wir bleiben heute vorerst im Tal und finden
am romantischen Vernagt-Stausee nach langer Suche auch eine Unterkunft
mit direktem Seeblick. Die Übernachtungsmöglichkeiten scheinen
hier begrenzt, die wenigen Unterkünfte sind alle belegt, aber
nach Touristen sucht man weit und breit. Heute steht Schnitzel auf
der Speisekarte, eine schöne Abwechslung nach tagelanger Pizza
Olio picante mit allen Folgeerscheinungen.