Dolomiten Report 2000

28.06.2000 Durch die Sella zur Friedrich August-Hütte (2298m)

Pisciadu-Hütte - Val Tita - Boehütte - Piz Boe - Pordoijoch - Sellajoch - Friedrich August-Hütte

(i) Frühaufsteher
Hier auf der Pisciadu-Hütte verbrachte ich erstmalig in den Dolomiten eine Nacht in einem Zustand, der den Namen Schlaf auch wirklich verdient hat. Guter Dinge hängen wir nach Katzenwäsche und Rucksackpacken noch ein wenig in der Frühstückslounge herum, ohne zu frühstücken — der traurige Anblick des gestrigen Frühstücks brennt uns noch immer auf der Netzhaut, so daß wir lieber erstmal ein paar Steilhänge nehmen und uns danach die mitgebrachten Salamis unter freiem Himmel neiwursteln wollen. Die Hütte ist das schwarze Loch rechts von der Bildmitte Das Wetter darf man bestenfalls als indifferent bezeichnen. Zwar scheint die Sonne, ihre Strahlen durchdringen die hohen Schleierwolken jedoch nur mit Mühe. Zwischen den Gipfeln, insbesondere gen Norden, hängen dichte Nebelfetzen in den Tälern. Wenn wir jetzt vierzig Jahre hier gelebt hätten, wüßten wir die Zeichen vielleicht zu deuten. So lassen wir uns überraschen und hoffen, daß es zumindest trocken bleibt. Müßig zu erwähnen, daß es draußen eiskalt ist.
Ein junger Spund mit Berliner Schnauze platzt herein. Ein Frühaufsteher, der mal eben vom Grödner Joch aus durch das Val Setus und über den Klettersteig hier hoch gejoggt ist. Wer morgens einen Dreitausender besteigen und abends im Gardasee planschen will, muß sich auch beeilen. Wir machen uns auf. Nahziel ist die Boe-Hütte, danach müssen wir improvisieren. Von allen ursprünglichen Gampenalm- Bekanntschaften sind nur noch die Bergers auf unserer Route, alle anderen haben wir aus den Augen verloren.

(ii) Der Weg zur Boe-Hütte
Den Weg haben wir gestern schon ausbaldowert, über den schotterigen Westhang der Pisciadu- Spitze führt er durch das Vallon del Pisciadu stetig himmelwärts. Da werden die armen Knochen sehr schnell warm. Die Hütte nebst Weiher liegt schon bald wie eine verlorene Miniatur unter uns inmitten der grotesken Trümmerhalde. Immer steiler wird der Anstieg und der Pfad biegt nach links in das winzige Tal mit dem lustigen Namen Val de Tita. Der Klettersteig, der auf der Tabacco- Karte lang und breit mit roten Kreuzen an dieser Stelle verzeichnet ist, erweist sich als zwei Meter langer Witz.
Oberhalb des Gletschers, der noch das ganze Tälchen bedeckt, gönnen wir uns das hart und redlich verdiente Frühstück. Der Wind weht heute noch kälter als üblich, da muß jetzt auch noch die Regenjacke als letztes Ass im Ärmel herhalten. Ein Hauch von Italien.
Der Berliner hat uns schnell eingeholt, kein Wunder bei dem kleinen Rucksack, den er mit sich trägt. Außerdem würde er in Berlin viel klettern, meint er. Es ist immer wieder erstaunlich, was unsere supertolle Hauptstadt alles zu bieten hat, und daß es dort sogar Berge gibt, war uns Provinzdeppen neu. Vielleicht trainiert er an den zahllosen Baukränen.
Bei der Kälte sind wir so richtig motiviert, schnell wieder Fahrt aufzunehmen. Der Pfad windet sich rechts über grobes Geröll, um schließlich auf einem verschneiten Hang wieder steil empor zu steigen. Wir sind endlich auf einem Plateau gelandet. Leider ist die Fernsicht wegen der Wolken nicht sehr ausgeprägt. Doch im Nahbereich bietet sich uns der beinahe schon gewohnte Dolomiten- Anblick: Türme über Türme, die wie Morcheln senkrecht aus dem Dunst schießen. Eine Stange kreuzt unseren Weg, als wir in Richtung Süden marschieren. Wir dürften mittlerweile etwa 2900m hoch liegen. Ein Bild von der Stange Wir treffen die Bergers und gehen mit ihnen über das steinerne Plateau in Richtung auf den Zwischenkofel, erst einen Hang hinunter, schließlich in Serpentinen hoch auf den Gipfel (2907m). Wieder Zeit für eine Pause.
Die Boe-Hütte ist von hier aus sichtbar, ebenso der Piz Boe, den wir in jedem Fall heute besteigen wollen. Auf dem Gipfel erkennt der ungeübte Beobachter ein Häuschen und ein merkwürdiges Ding, welches am ehesten an die Leinwand eines Autokinos erinnert. Sehr merkwürdig. Der Berg selbst wirkt eher unspektakulär, wie ein rundgeschliffener Tafelberg und nicht wie die typischen Dolomitengipfel mit ihren schroffen, senkrechten Wänden. Überhaupt ähneln die Formationen auf dem Dach der Sella keinen, die wir bisher gesehen haben. Es gibt keine nennenswerte Vegetation und alles erscheint irgendwie hügelig, sanft und abgeschliffen. Die Felsen sind glatt und nur von Karren durchzogen, Zeichen einer Karstlandschaft. Große, kantige Felsbrocken wie auf dem unteren Stockwerk sucht man hier vergeblich. Wo sollten die auch herunterfallen, wenn nicht vom Himmel. Der Hupfdohlen-Michler An der Nordostflanke des Zwischenkofel gähnt ein atemberaubender Abgrund, dort geht es etwa 500m senkrecht in die Tiefen des Val de Mezdi hinunter. Ein unbeschreiblicher Anblick, wir wagen es kaum, uns dem Rand der Abbruchkante zu nähern. Stattdessen marschieren wir schnurstracks weiter gen Süden und erreichen nach wenigen Minuten die Boe-Hütte (2871m). Die Hütte ist gut frequentiert, viele Wanderer kommen vom Pordoijoch hierher, trinken ein Süppchen und besteigen anschließend den Gipfel des Piz Boe, zu dessen Füßen die Hütte gelegen ist.
Als zusätzliches Highlight darf man heute den Versorgungshubschrauber bestaunen, der die Hütte immer wieder in kurzen Intervallen ansteuert und prall gefüllte Netze mit prall gefüllten Bierfässern abwirft. So funktioniert das also mit der Logistik. Reichlich umständlich, da darf man sich über die horrenden Preise für Flüssignahrung nicht beschweren.

(iii) Die Besteigung des Piz Boe (3152m)
Wir deponieren unsere Rucksäcke in der Hütte und gehen die Besteigung des Piz Boe an. Eine tolle Aussicht dürfen wir auf dem Gipfel nicht erwarten — der Himmel hat sich immer mehr zugezogen — doch wann bietet sich einem schon einmal die Gelegenheit, einen waschechten Dreitausender zu erobern. Damit können wir zu Hause ordentlich protzen, obwohl wir von unserer Position aus eigentlich keine 300Hm mehr hochkraxeln müssen.
Ohne schweres Gepäck kommt uns der Aufstieg beinahe wie ein Sonntagsspaziergang vor, über Schneefelder und Geröll hüpfen wir die Westflanke des Berges hinauf bis zu einem kurzen Klettersteig, der über einen schmalen Sims führt, bei Trockenheit aber kein Problem darstellt. Links folgt eine Abzweigung über den schmalen Grat der Cresta Strenta, wir folgen dem Pfad, der nach rechts in südliche Richtung ansteigend bishin zum Gipfel führt. Da stehen wir schließlich auf dem Gipfel und haben dafür kaum eine halbe Stunde gebraucht.
Der Piz Boe ist wahrlich ein Gipfel der Superlative: mit Abstand der höchste, den ich in meiner jungen Karriere bisher bestiegen habe und auch der mit Abstand häßlichste. Mittendrauf steht hier die Imbißbude mit Namen Capanna Piz Fassa und das flache Ungetüm, das nach unten weithin sichtbar ist, erweist sich als gewaltige Satellitenschüssel. Es ist schon peinlich, wie manche Berge dem hemmungslosen Tourismus geopfert werden. Nach dem Glauben der Eingeborenen waren die höchsten Gipfel einst Residenzen der Götter, heute errichtet der Mensch dort Tempel für den einen und offenbar einzig wahren Gott Mammon. Ich persönlich sehe mich durchaus in der Lage, für ein paar Stunden auf zivilisatorische Errungenschaften wie Bier, Maccaroni und Ansichtskarten zu verzichten, doch schließlich bin ich auch aus freien Stücken hier. Grinsemänner auf dem Gipfel (c) by an unbekannte Lady Nachdem wir für das obligatorische Gipfelkreuzfoto posiert und dem Hubschrauber, der auch hier sein Bier los wird, eine Weile zugesehen haben, ziehen wir uns an den Südrand des Gipfels zurück und hoffen, einen Blick auf die Marmolada (3342m) zu erheischen, den höchsten und majestätischsten aller Dolomitengipfel. Vergeblich, sie ist ständig in Wolken gehüllt. Schade, gestern um die gleiche Zeit hätten wir hier noch eine phänomenale Aussicht genießen können. Wenigstens den Eissee, Lech d'Lace, dürfen wir von hier oben aus bewundern. Ein See, der wie der Name schon andeutet, vereist ist. Wow! Beim nächsten Mal sind die Schlittschuhe dabei.
Bald sind wir durchgefroren und beginnen wieder mit dem Abstieg. Wir beeilen uns lieber, denn es beginnt leicht zu schneien. Auf dem Klettersteig kommen uns vier schwule Cowboys aus Texas entgegen, um die uns nicht bange ist, denn sie werden sich oben auf dem Gipfel gegenseitig warmhalten können.

(iv) Eine Busfahrt, die ist lustig...
Zurück in der Boe-Hütte studieren wir die Busfahrpläne, die wir uns im TVB von St.Christina besorgt haben. Unsere anfängliche Routenplanung ist seit gestern vollkommen durcheinander geraten, von nun an wird improvisiert. Wir wollen uns bis zum Pordoijoch durchschlagen und von dort mit dem Bus weiter bis zum Sellajoch fahren. Dann ist es nicht mehr weit bis zur Friedrich August-Hütte, die strategisch günstig am Anfang des gleichnamigen Almweges liegt, der uns morgen bis zum Rosengarten führen soll.
Die Südtiroler Verkehrsbetriebe haben sich alle Mühe gegeben, ihre Fahrpläne so transparent und übersichtlich wie nur möglich zu gestalten. Nach einer Viertelstunde intensiven Studiums haben wir auch schon zumindest eine vage Ahnung von den für uns relevanten Abfahrtzeiten. Schietwedder zieht vom Pordoijoch zum Piz Boe herüber (c) by MB Wir verabschieden uns von den Bergers und treten den Weg zum Joch an. Der verläuft zunächst ziemlich unspektakulär über Geröll immer parallel zum Hang nach Süden, bis wir wieder auf unseren guten alten Dolomiten- Höhenweg Nr.2 stoßen, der uns letztlich sicher in westlicher Richtung zur Rif.Forcella Pordoi (2829m) geleitet. Hier droht der steile Abstieg zum Pordoijoch durch eine enge Spalte über loses Geröll. Alternativ dazu besteht 100m höher die Möglichkeit, von der Mariahütte mit der Gondel ins Tal zu schweben. Eine italienische Schulklasse kommt von dort herunter zu uns. Die Kinder drücken Michael ihre Kameras in die Hand, reihen sich brav auf und lassen den armen Kerl ein halbes Dutzend Aufnahmen von sich machen. Schließlich klettern sie wieder zurück zur Gondelstation. Wir folgen ihnen und sparen uns den langwierigen Abstieg zu Fuß, denn der Himmel verdüstert sich immer mehr und die Beine sind auch schon wieder schwer.
Mit einer Riesengondel, wie man sie aus James Bond-Filmen kennt, sind wir die Strecke in wenigen Minuten hinuntergesegelt. Kaum sind wir im Tal, bricht ein heftiges Gewitter über uns herein. Sehr weise von uns, diesen Weg zu nehmen. Per pedes in dem steilen Kar wären wir jetzt in erhebliche Schwulitäten geraten. Im Cafe der Gondelstation vertrödeln wir die Zeit bis zur Ankunft unseres Busses mit dem Verzehr von Jagatee. Der zweite Bus kommt sogar planmäßig und befördert uns für wenig Geld im ersten Gang zum Sellajoch.

(v) Putenschnitzel a la Friedrich August
Der Regen hat angenehmerweise aufgehört, doch der Boden ist tief und matschig geworden, als wir auf der Suche nach dem Friedrich August-Weg über die grünen Wiesen irren. Endlich durch knietiefen Schlamm waten, wie haben wir uns danach verzehrt. Ein Blick auf die Sella hinter uns offenbart den Piz Boe in frischem Weiß. Schön, daß wir nicht mehr dort oben sind, bei Schnee hat eine solche Gipfeltour sicherlich ihr ganz eigenes unangenehmes Flair. Schließlich finden wir die Friedrich August-Hütte gemütlich im Grünen zu Füßen des Langkofel gelegen.
Ein schönes Zimmer zu zweit, eine warme Dusche mit Netzadapter für meinen Föhn und ein 3-Gänge-Menü zu einem fairen Preis lassen uns schnell vergessen, daß wir heute beinahe elf Stunden auf den Beinen waren. Morgen geht es gemütlich über die Almen, das verspricht ein richtiger Tralala-Tag zu werden.


5.Tag: Auf dem Friedrich August-Weg zur Vajoletthütte

© Stefan Maday 16.08.2000