Die Alpbach Chronik 1999
05.09.1999 Hamberg (2095m)
Sonntagswetter. Ich schaffe es, noch kurz vor der Mittagspause
eine Gondel nach oben zu erwischen. Es wimmelt nur so von Leuten.
Es ist September, die Nachsaison hat begonnen, jetzt kommen
die Wanderer in Scharen.
Ich treffe zwei meiner Gäste. Aufgeregt berichten sie mir,
sie hätten auf dem Panoramaweg ums Wiedersberger Horn ein
leibhaftiges Murmeltier erspäht!
Auf meinem Weg zum Hamberg komme ich dort unweigerlich vorbei,
kann aber beim besten Willen kein Murmeltier entdecken.
Ich weiß auch gar nicht, wie ein
Murmeltier aussieht. Vielleicht hat es sich nur schnell ein paar
Touristen geschnappt und ist wieder auf Monate in seinen Bau verschwunden.
Das Wiedersberger Horn gleicht heuer einem Ameisenhaufen, auf dem
Gipfel scheint es zuzugehen wie in einer Uni-Mensa am Schnitzeltag.
Wenigstens läuft man sonntags nicht Gefahr, auf
2000m Höhe vom Bagger plattgewalzt zu werden (wie romantisch).
Mein Weg führt mich über den einsameren Grat
Richtung Süden, den ich inzwischen wohl schon ein halbes Dutzend mal
gegangen bin.
Kurz vor der Sagtaler Spitze zweigt rechts ein Weg ab, an der
Kreuzung steht ein Schild mit der Aufschrift "Hamberg". Das ist
der Weg durch das Hochtal. Ich fühle
mich heute aber richtig zum Bäume ausreißen und beschließe, die
Schlangen Schlangen sein zu lassen und hinter der Sagtaler Spitze
direkt auf den Grat Richtung Hamberg zu steigen. Dort geht es
ziemlich steil hoch und der Pfad ist äußerst eng. Ich nehme all
meinen Mut zusammen und lande letztlich
auf einem Gipfel, der fast genauso hoch ist wie
die Sagtaler Spitze (2228m) und laut meiner Karte Standkopf
heißt (manche nennen auch die Sagtaler Spitze so).
Oben vernehme ich Musik, sie scheint aus dem Zillertal zu kommen.
Die Akkustik in den Bergen ist schon phänomenal. Manchmal hört
man Stimmen, die sich so laut und deutlich anhören, als kämen
sie aus dem nächsten Gebüsch. Man sucht in der Nähe nach der
Geräuschquelle, findet sie aber nicht. Auch die Richtung läßt sich
nicht so recht bestimmen. Schließlich entdeckt man winzige Schemen,
die mehrere hundert Meter entfernt sind. Ich denke, daß zum einen
die vielfache Reflexion
an Felswänden (mit Resonanzeffekten) und zum anderen
der sehr geringe allgemeine Lärmpegel für diese Effekte
verantwortlich ist.
Der Hamberg ist bereits in Sicht, und da er tiefer liegt als der
Standkopf, ist der restliche Weg sozusagen ein Netto- Abstieg.
Es geht aber abwechselnd bergauf und bergab, wobei der Pfad allmählich immer
breiter wird, so daß ich einen Zahn zulegen kann. Die Musik hat inzwischen
aufgehört und ich traue meinen Augen kaum: vor mir pilgert eine riesige
Menschenschlange den Hamberg herunter.
Darunter auch Leute mit Köfferchen und Blasinstrumenten: die Band.
Offenbar habe ich hier ganz knapp ein alpines Happening
verpaßt, eine Hundertschaft von Pilgerern macht sich gerade an
den Abstieg ins Zillertal. Ein kurioses Schauspiel.
Ungefähr zwanzig Minuten dauert die Prozession, dann ist der Weg
zum Gipfel endlich frei. Über mannshohe Felsbrocken geht es die
letzten Meter nochmals steil bergauf, gar nicht so
ungefährlich.
Oben kann man dann bei der tollen Aussicht relaxen, das untere Zillertal
sieht von hier genauso aus wie eine Modelleisenbahnlandschaft mit
Häuschen, Sträßchen, einem Flüßchen,
einem Sägewerk und natürlich der Zillertaler Eisenbahn. Echt schnuckelig!
Die rechte Beschaulichkeit mag aber dennoch nicht aufkommen, denn der
Gipfel ist immer noch stark frequentiert. Die Einheimischen sind bereits wieder
auf dem Weg zu ihren Fernsehern, aber eine Menge französischer und
deutscher Touristen sind geblieben und spielen "Gletscherraten" mit
Landkarte und Feldstecher. Kaum, daß ich in Ruhe
herumjausen
könnte. Leider ist die
Zeit auch schon wieder fortgeschritten und weil ich die
letzte Gondel heimwärts noch erwischen möchte, mache ich mich
bald wieder auf.
Der Abstieg bedeutet für mich, der in keinem Falle mit den Zillertaler
Schürzenjägern Bekanntschaft machen möchte,
zunächst einen anstrengenden Aufstieg. Den Standkopf spare ich mir diesmal,
stattdessen geht es durch mein kleines Lieblingstal, wo der
Schnee, der Anfang August noch hier und dort lag, inzwischen
getaut ist.
So ein warmer und feuchter Sommer wie heuer
ist jedes Gletschers Tod. Neulich hörte ich eine Meldung im Radio,
nach der irgendwo in den Tuxer Alpen eine seit mehr als 10 Jahren
vermißte Leiche gefunden wurde. Offenbar hatte das Eis den
Körper erstmals wieder freigegeben. Im Zuge der globalen
Erwärmung werden die Paläontologen noch viel Freude an den
vielen Ötzis und Tuxis haben, die die Gletscher in den nächsten
Jahren ausspucken werden.
Was würden die Archäologen wohl über mich sagen, wenn sie mich nach
5000 Jahren im Eis fänden? Sie würden viele Fragen stellen, aber
keine Antworten erhalten. Warum war er unterernährt? Mit ein
paar Eiern und Butterbroten kann man seinen Kalorienverbrauch beim
Wandern kaum decken. Woher diese schlechten Zähne? Zuviel Coke
in meiner Jugend. Was wollte er da oben? Wenn ich das wüßte,
wahrscheinlich war mir unten langweilig.
Fazit: der Hamberg ist ein prima Aussichtsberg, aber er weiß
es auch.
Unterhaltungswert:
Schwierigkeitsgrad: