Die Alpbach Chronik 1999

12.09.1999 Vom Kleinen Galtenberg (2318m) zum großen Bruder

Seit zwei Tagen bläst nunmehr der Föhn, inzwischen ist keine Wolke mehr am Himmel zu sehen. Obwohl mir die Tour zum Großen Beil noch gewaltig in den Knochen steckt, ich leide bisweilen unter arthritischen Symptomen an den Kniegelenken, höre ich den Ruf der Berge und folge ihm. Alles andere wäre bei einem solchen Wetter auch reine Zeitverschwendung.
Heute ist der Kleine Galtenberg an der Reihe. Das Vorspiel ist bestens bekannt und nur mehr ein Sonntagsspaziergang. Nach gut anderthalb Stunden stehe ich am Scheideweg über dem Hochleger der Farmkehralm. Diesmal wähle ich den Pfad, der nach rechts abzweigt und nur mäßig ansteigend auf ein Plateau unterhalb des Galtenbergmassivs führt, die sogenannte Farmkehrpfanne. Ein angemessener Name, denn hier weht nicht mal ein laues Lüftchen und die Sonne brät mich wie ein Spiegelei.
Abkühlung verspricht nur ein kleiner Gletscher. Den habe ich damals schon vom Wiedersberger Horn aus gesehen, bei meiner allerersten Besteigung eines Berges. Der Weg ist hier sehr schlecht zu erkennen, ich irre einige Male herum, bis ich ihn wiederfinde. Zwei Engländer kommen mir entgegen, sie müssen gerade vom Galtenberg gestiegen sein. Als sie an mir vorbeikommen, wedelt einer der beiden mit seinem Handrücken, verzieht das Gesicht und entlockt seinen gespreizten Lippen ein dumpfes Stöhnen. I have a pretty good idea, was er mir damit sagen will. Doch ich lasse mich nicht einschüchtern.
Der Weg führt mich genau unter die steile Wand, die oben den Sattel zwischen beiden Galtenbergen bildet. Ich hatte so etwas geahnt und mich von weitem schon gefragt: wie soll man da denn hochkommen? Aber ich sehe den Trampelpfad, der sich steil in Serpentinen nach oben windet. Er ist äußerst schmal, gerade so, daß man beide Füße nebeneinander stellen kann. Schon nach wenigen Metern beginnt mir der Schweiß zu strömen und die Pumpe zu rasen. Von meinem T-Shirt habe ich mich längst getrennt (hängt zum Trocknen am Rucksack).
Auf halber Höhe verläßt mich die Kondition, ich komme nur noch im Schneckentempo voran. Alle paar Meter bleibe ich vorsichtig stehen, hänge mich in die Wand und japse wie ein Fisch nach Sauerstoff. Diese verdammte Raucherei!
Eines weiß ich schon sicher: diesen Weg werde ich nachher nicht wieder runterstiefeln, da würden mir die Kniescheiben zerplatzen. So geht es noch eine Weile in Etappen hinauf, ich schaue nur auf meine Füße, höchstens mal nach oben, ungern nach unten. "Never look back, walk tall, act fine!" Herr Bowie kennt sich offenbar aus.
Endlich oben angelangt, unterbreitet sich mir eine phantastische Landschaft, die nicht von dieser Welt zu sein scheint. Der Kamm ist in der Mitte aufgeplatzt wie eine Wunde, in der Mulde liegen Felsbrocken und Schnee so weiß wie Muskelfleisch. Das Ganze hier hätte ich gerne als Gartenanlage.
Zu meiner Rechten der Kleine Galtenberg, nur noch wenige Meter über mir. Er ist von einem Mantel aus Fels umgeben, hier kann ich endlich mal meine Armee trainieren, die sonst nur nutzlos in der Gegend baumeln. An Felsvorsprüngen und kleinen Grasbüscheln ziehe ich mich langsam hoch, jetzt zeigt sich auch, was die Schuhe taugen. Oben erwartet mich eine kleine Überraschung: ein Twin Peak, beide Gipfel gleich hoch und mit einer Blumenwiese obendrauf, ganz herzallerliebst.
Ich mache es mir auf dem hinteren im Gras bequem und genieße die Aussicht. Der Tristenkopf scheint zum Greifen nah. Vor einigen Tagen habe ich vergeblich einen Weg dort hinauf gesucht, wenn ich jetzt ein guter Weitspringer wäre...Auf dem großen Bruder prügeln sich die Gipfelstürmer um die freien Aussichtsplätze, wie das an Sonntagen so üblich ist. Das ist der Vorteil, wenn man die Underdogs unter den Gipfeln besteigt: man hat zwar weder ein schniekes Gipfelkreuz noch Bänkchen und Tischchen, aber dafür seine Ruhe.
Nach einem kleinen Schlümmerchen fühle ich mich wieder fit. Der Große Galtenberg hat sich inzwischen geleert und ich bin neugierig, was es mit dem berüchtigten Gratsteig auf sich hat. Vorsichtig hangele ich mich wieder hinunter und marschiere an der klaffenden Wunde vorbei nach Norden, meiner Bestimmung entgegen.
Der Puls zieht sofort wieder an, als ich den steilen Hang in Angriff nehme. Eine barbarische Schinderei! Vor wenigen Wochen noch hätte ich jeden, der solche Strapazen freiwillig auf sich nimmt, in die Masochisten -Schublade gesteckt. Letzten Endes alles eine Frage der Motivation.
Wer denkt, das wars dann, der hat den Schotten von heute Mittag vergessen. Ich bin doch fast schon auf Höhe des Gipfelkreuzes, da nimmt das Unheil folgende Gestalt an: der Grat verjüngt sich auf wenige Zentimeter, links geht es steil hinunter zur Farmkehrpfanne, rechts noch steiler in die tiefe, düstere Unendlichkeit. Natürlich ist der Weg alles andere als eben und ich fürchte, schon der Wind könnte mich herunterblasen, wenn ich dort einen Fuß draufsetzte. Klar, was der Waliser gemeint hat, etwas wie "I just escaped the cutter's scythe!"
Eine kurze Bedenkzeit scheint mir angemessen. Diese Berge scheinen mich immerfort prüfen zu wollen. Den ganzen steilen Weg wieder zurück? Bitte nicht. Nur ein paar lausige Meter bis zum Gipfel, von dort aus könnte ich den Touristenpfad hinuntergleiten. Balsam für die alten Knochen! Aber welch böse Falle vor mir lauert! Doch hat nicht Shakespeare seinen Julius Cäsar sinngemäß sagen lassen: "Der Feigling stirbt tausend Tode, der Held aber nur einen."? Bin ich nicht schon oft genug gestorben?
Ich begebe mich in die Hocke, um meinen Schwerpunkt zu erniedrigen, so fühle ich mich nicht ganz schutzlos. Alles wäre einfacher, wenn hinter mir jemand mit Führungsqualität und einer geladenen Schrotflinte stehen würde. Unkraut vergeht nicht! Mit der Grazie einer Ballerina, der man zwei Holzbeine verpaßt hat, schlängele ich mich irgendwie über die wenigen Meter drüber. Hoffentlich hat das keiner gesehen! Schon stehe ich auf dem Gipfel, meine Euphorie ist grenzenlos, ich tanze und schreie herum vor purer Glückseligkeit. Wow!!!
Das reinste Heroin, und alles für umsonst! Die unerträgliche Selbstverständlichkeit des Seins wurde für einen kurzen Augenblick in Frage gestellt! Als ich nach einer halben Stunde wieder talwärts ziehe, wird mir auf dem Rückweg nicht langweilig, denn ich habe einiges an Eindrücken zu verarbeiten.
Nach diesem Erlebnis werde ich die Welt mit etwas anderen Augen betrachten, immerhin habe ich einen furchtbaren Drachen besiegt.

Fazit: Einfach nur "alpengeil"!

Unterhaltungswert:   Schwierigkeitsgrad: 


15.09.99 Über den Gamssteig zum Krinnjoch

© Stefan Maday 5.10.2001