Dolomiten Report 2004

1.Tag: Cima della Fradusta (2939m) - Pradidali-Hütte

Nach einer erholsamen Nacht blinzelt die noch kalte Sonne vom Himmel und lässt die Pala in einem Cima Rosetta im Morgenlichtganz anderen Licht erstrahlen als noch am gestrigen Abend. Wir schöpfen sogleich neue Hoffnung für den Tag und lassen uns diese auch durch das Frühstück nicht nehmen. Gegen acht Uhr stehen wir abmarschbereit an der Rosetta-Hütte - die Uhrzeit ist rekordverdächtig.Gipfelspaß auf der Cima Rosetta Wir lassen unsere Rucksäcke zunächst an der Hütte zurück, da wir als erstes die nahegelegene Cima Rosetta erobern wollen. Ein leichtes Unterfangen. Der Schnee ist zu dieser Stunde noch hartgefroren und mit zunehmender Höhe entblößt die mäßig ansteigende Rampe immer häufiger ihren schotterbedeckten Felskern. Blick auf Colverdehütte und VezzanaLeider beginnen bereits die ersten Wolkenschwaden aufzuziehen. Nach einer halben Stunde Aufstieg dürfen wir uns für das obligatorische Foto mit Gipfelkreuz aufreihen. Nachdem wir uns von der Tatsache überzeugt haben, dass die Westflanke des Berges nicht annähernd so einladend aussieht wie der Osthang, den wir gerade heraufgestiefelt sind, genießen wir die immer trüber werdende Aussicht auf das Altopiano, die Colverde-Bergstation nebst Baukran und nicht zuletzt das bombastische Vezzana-Massiv inklusive der winzigen, rotgetünchten Biwakschachtel.

Zurück an der Rosetta-Hütte nehmen wir unser Gepäck auf und kaufen Mineralwasser für die - wie wir glauben - schweißtreibende Tour, die uns bevorsteht. Wir folgen dem Weg mit der Nummer 709 nach Südosten. Das Altopiano erweist sich recht bald als nicht halb so piano, wie sein Name unsBlick auf La Fradusta glauben machen will: schneebedeckte Hügel wechseln mit tiefen, verschneiten Trögen. Unser Ziel, die muschelförmige Cima della Fradusta, blinzelt immer mal wieder weit vor uns durch den Dunst, bevor wir in die nächste dieser Mulden herabsteigen müssen, an deren Firnwänden das Tauwasser unheimliche Schleifspuren hinterlassen hat.
Nachdem wir die Abzweigung zur Pradidali-Hütte passiert haben, werden die Fußspuren immer spärlicher und damit das Stapfen durch den Schnee immer beschwerlicher.Schneewüste Besonders der ein oder mehr Kilo (ähem) schwerere Michael bricht des öfteren bis über die Knie in der weißen Herrlichkeit ein. Schließlich demoliert er gar einen seiner beiden Teleskopstöcke. Als der dessen Spitze aus dem Tiefschnee ziehen will, löst sich die besagte Spitze vom Stock. Dabei geht das Gelenk verloren, das den unteren Teil mit dem oberen Teil des Stockes verbindet. Da es von weißer Farbe ist, suchen wir es in dieser Schneewüste vergebens und Michael muss den Weg mit anderthalb Stöcken fortsetzen.

Schließlich nehmen wir noch einen besonders hohen Hügel, bevor sich die Nordflanke der Fradusta endlich eindrucksvoll vor uns ausbreitet: ein Gletscher, der nicht annähernd so flach verläuft, wie ich mir das vorgestellt hatte, gekrönt von einem langen Felsengrat. Es ist nun an der Zeit für uns, eine Strategie für den Aufstieg zu entwickeln, d.h. zu gucken, was die anderen Leute machen. Normalerweise (also im Sommer) existieren zwei Aufstiegsrouten: die eine führt relativ umständlich über den Kamm von Osten, die andere (kürzere) traversiert zunächst den Gletscher in West-Ost-Richtung, bevor sie sich mit der ersten auf dem Kamm wieder vereint.

Drei junge ItalienerInnen überholen uns und gehen den Aufstieg über den Gletscher an. Wir folgen Gletscheranstieg zur Fradustaihnen mit respektvollem Abstand. Der Anstieg, den sie treten, ist äußerst steil. Der Gletscherfirn ist lange nicht so tief wie das Zeug auf dem Altopiano und viel rutschiger. Zudem lauert unterhalb der Gletscherwand ein scheußliches schwarzblaues Loch, aus dem Tauwasser hervorquellt. Wer dort hineinrutscht, hat wahrscheinlich für die nachsten 200 Jahre seine Ruhe. Wir fragen uns zwischendurch, ob wir für eine solche Show wohl proper ausgerüstet sind, steigen dann aber tapfer weiter - schon weil wir auf diesem grässlichen Pfad nicht umkehren wollen.
Nach einer kleinen Ewigkeit höchster Konzentration und Selbstdisziplin haben wir die Felsenkrone über dem Gletscher erreicht. Es folgt ein kurzer, aber heikler Anstieg durch Tiefschnee, der mich böse an die Schneerinne bei unserer Besteigung der Schusterplatte erinnert. Danach betreten wir den Gipfelgrat und haben endlich wieder festen Fels unter den Füßen. Ohne Worte zu verlieren steht zwischen uns schon fest: diesen Weg werden wir um nichts in der Welt wieder hinuntersteigen!

Die Sicht ist gar nicht mal so gut hier oben. Brannte auf dem Gletscher immerhin noch eine Altostratus-gebremste Sonne auf uns hernieder, stehen wir nun in der dicksten Nebelbrühe. Wir fragen unsere drei mutigen Vorsteiger, wo denn wohl der Gipfel sei. Sie wissen es nicht, Irgendwo muss der Gipfel sein... er müsse hier irgendwo sein. Schon beginnen sie damit, sich Steigeisen für den Abstieg unter die Füße zu schnallen.
Ich gehe ein Stückchen den Grat weiter, in der Hoffnung, auf irgendeine Gipfelmarkierung zu treffen. Einmal meine ich, voraus eine schemenhafte Form im Nebel ausmachen zu können, möglicherweise andere Bergsteiger? Ich kehre dann aber doch um und wir beschließen, den Gipfel als bestiegen anzusehen. Da wir sehr viel steiler über den Gletscher gestiegen sind als über den verschütteten "Normalweg", ist diese Annahme nicht so unrealistisch.

Es vergehen keine zehn Minuten und wir schicken uns an, diesen trostlosen Ort wieder zu verlassen, jenen Ort, der es mir heute morgen noch wert schien, dass ich alle erdenklichen Mühen und sogar Gefahren auf mich nehme, um ihn zu erreichen. Mit Überschreitung des Höhepunktes wird mir die Sinnlosigkeit meines Strebens bewusst und meine Motivation beginnt schlagartig in die Füße zu sickern. Nun heißt es nur noch einen sicheren Weg zurück in die Zivilisation zu finden, Blick zurückbevor uns Nebel und Dunkelheit völlig eingeholt haben. Wir irren über den Kamm hinab auf eine wie es mir vorkommt Rundreise über das gesamte Altopiano, treffen ab und an auf Fußspuren im Schnee oder Steinmännchen, die Muskeln immer müder werdend, die Schuhe längst durchnässt. Einmal breche ich bis zur Hüfte im eisigen Nass ein. Ich bin froh, dass ich Michael dabei habe, denn alleine hätte ich längst die Orientierung verloren. Nach einer Ewigkeit gelangen wir wieder zu der Kreuzung von heute morgen, an der der 109er herunter zur Pradidali-Hütte abgeht.

Als wir die Schlucht zwischen der Cima Pradidali und der Cima Canali herabsteigen, bleibt auch der verhasste Schnee zurück, nur vereinzelte Schneefelder, von denen wir jeweils glauben, dass es das letzte sein müsse, sägen an unseren Nerven, bis wir letzten Endes die ersehnte Pradidali-Hütte (2278m) erreicht haben. Ein schnuckeliges, an den Fels gebackenes Ding, das uns unwillkürlich an die Fonda Savio-Hütte in der Cadinigruppe erinnert.

Im Vergleich zum gestrigen Abend sind nur wenige Gäste zu beklagen. Wir genießen unsere Spaghetti im "Wintergarten", einem gläsernen Anbau mit theoretisch guter Aussicht - wenn ausnahmsweise mal Rifugio Pradidali kein Nebel herrscht. Mit der netten, blonden Bedienung, die ein halbes Dutzend Sprachen spricht, dem Hüttenwirt, der überhaut nur italienisch spricht und zwei Amerikanern diskutieren wir die allgemeine Schnee- und Wetterlage und was man sonst noch so machen kann. Wir beide kommen überein, morgen früh zur Velo della Madonna-Hütte hinüberzusteigen.
Kurz vor dem Schlafengehen treffen wir vor der Hütte auf einen freakigen Nachzügler, der gerade vom Gipfel der Fradusta heruntergestiegen sein will. In Ballettschuhen. Er will gleich noch ins Tal runter. Im Dunkeln. Da sind wir froh, dass unsere Heia nur ein paar Treppenstufen entfernt liegt, direkt neben dem Klo.

Meine Gesichtshaut spannt sich seit heute abend ziemlich verdächtig, offenbar habe ich vom Gletscher ein Andenken in Form eines prächtigen Sonnenbrandes mitgenommen. Das ist der Preis, den man zahlen muss, wenn man nicht mit einem so albernen Hut gesehen werden möchte wie der Michael.


© Stefan Maday 9.4.2005

2. Tag: Umrundung der Pala Südspitze

[www.alpenreport.de]