Dolomiten Report 2001

03.07.2001 Die Besteigung der Schusterplatte (2957m)

Dreizinnenhütte - Innichriedlscharte - Schusterplatte - und zurück

(i) Milka und Hugo der Boss Reider (Vorspiel)
Nach den gestrigen Strapazen hatten wir einen erneuten nächtlichen Achtstünder wirklich verdient. Die Schusterplatte Abgesehen von einem bleiernen Muskelkater in den Oberschenkeln fühlen wir uns fit und voller Tatendrang wollen wir uns in Kürze einen richtig hohen Brocken vornehmen. Bereits gestern abend haben wir für heute die Besteigung der Schusterplatte angedacht, jenes unförmigen Kolosses, dessen Südwand unseren Fensterblick ziert. Aus der Ferne betrachtet scheint dort nicht übermäßig viel Schnee zu liegen.
Draußen vor der Hütte erwischen wir Hüttenboss Hugo Reider denkmalgleich auf einem Sockel stehend und mit seiner Handyantenne herumwedelnd um Netzempfang ringend. Mit Erfolg, und so erfahren wir, dass es offenbar technische Probleme mit seinem Bagger gibt. Schade, dadurch verzögert sich der Ausbau der sympathischen Kloakengrube neben der Hütte. Milka ist besserer Laune, als wir ihr erneut 106000 Lire für die kommende Nacht in die Hand drücken. Derart gebeutelt lassen wir das Frühstück aus und bauen stattdessen auf unseren Proviant.

(ii) Der Anstieg
Mit halbem Gepäck gehen wir die Sache zuversichtlich an. Die Klettergurte haben wir vorsorglich eingesteckt, denn eventuell möchten wir auf unserem Rückweg noch einmal den Toblinger Knoten (2617m) besuchen. Dort wurde ein Leiternsteig aus dem Krieg rekonstruiert, der heute allgemein als das El Dorado für Möchtegernfeuerwehrleute gilt. Der Weg führt uns locker an den beiden Seen vorbei hin zur Innichriedlscharte. Auf einer netten Wiese gönnen wir uns ein Frühstück bestehend aus Keksen, Salami sowie Wasser unbekannter Herkunft und Konsistenz.
Hinter unserer Wiese beginnt abrupt die lebensfeindliche Zone in Gestalt einer riesigen Schotterpiste, die es zu traversieren gilt. Der Pfad windet sich einen guten Teil um den Westhang des Innichriedlknotens (2885m) herum und wir sind nicht besonders überrascht, dass er immer einmal wieder unter Firnschneebächen verschwindet.
Endlich gelangen wir zum Kar südöstlich der Schusterplatte. Nun heißt es Höhe gewinnen. Teils über rutschigen Schotter, teils über felsige Terrassen. Der Pfad ist oft gar nicht zu erkennen. Die Sonne brennt derweil auf uns herab. Ein kleines Bächlein hilft uns beim Strecken unserer Wasserreserven. Atemlos erreichen wir schließlich einen Felsabsatz. Dort werden wir bereits erwartet.

(iii) Gefahrvolle Augenblicke
Ein Mädchen und sein Großvater. Sie waren schon auf dem Gipfel und können es gar nicht erwarten, uns den Weg zu zeigen: statt geradeaus auf den Sattel, wie wir vermutet hatten, führt der tatsächlich links eine schmale Felsenschlucht hinauf. Die ist allerdings unverschämt steil. Damit nicht genug: sie ist bedauerlicherweise auch mit Schnee bedeckt. Stolz berichten die beiden, wie sie auf allen Vieren dort rauf- und wieder runtergeklettert sind. Die Hände nur immer schön tief in den Schnee bohren, dann klappt das schon. Wir sind entgeistert.
So kurz vor dem Ziel wollen wir jedoch nicht unverrichteter Dinge wieder umkehren. Wir versuchen es mit unseren Stöcken. Es gibt Momente im Leben, da möchte man nicht um jeden Preis der Erste sein. Deshalb lasse ich gerne den skierprobten Michael vor. Wenn er auch hier und da einmal durch den Schnee bricht, bastelt er mir doch hübsche Treppenstufen. So arbeiten wir uns unendlich langsam den Steilhang hinauf, dessen Höhe wahrscheinlich kaum 20 Meter beträgt. Doch ein Sturz könnte hier fatale Folgen haben, da das Schneefeld nur wenige Meter breit ist und überall Felsen lauern, die bekanntlich nicht sehr gut flauschen.

(iv) Der Gipfel
Schließlich erreichen wir den Absatz. Nun kann es nicht mehr weit sein bis zum Gipfel. Links windet sich ein schmaler Pfad um einen Felsen herum und führt uns auf ein Geröllfeld. Der Weg verschwindet, doch ein kleines Schneefeld weist Fußspuren auf. Bald haben wir die Platte erreicht. Sie macht ihrem Namen Ehre: flach und ausladend ist das Gelände hier oben. Dazu roter Fels wie auf einem lanzarotischen Vulkan. Die höchste Stelle ist durch einen leeren Wegweiser markiert und lädt uns zum Gipfelglück. Beim Salamiessen auf dem Gipfel (c) by MB's Selbstauslöser Die Laston dei Scarperi erweist sich als grandiose Aussichtsplattform im wahrsten Sinne des Wortes. Fast level mit der Großen Zinne erschließt sich uns ein beinahe 360 Grad umfassender Rundblick. Nur unmittelbar im Norden blockt die noch höhere Dreischusterspitze (Punta Tre Scarperi, 3151m). So lernen wir die schneebedeckten Gipfel der Marmarole ebenso kennen wie das Cristallomassiv, Ziel unseres letzten Ausflugstages. Fern im Südwesten glauben wir sogar den altbekannten Marmolada-Gletscher ausmachen zu können.
Vier Stunden haben wir von der Hütte aus benötigt. Stellt man die Frühstückspause und die Schneeschikane in Rechnung, liegen wir damit durchaus im Normalbereich. Ausnahmsweise. Mein Kopf fühlt sich wieder wie in Watte gepackt und ich beschließe, heute abend einmal versuchsweise dem Dämon Alk abzuschwören. Der kleine Zurbrüggen auf 2958m Die Sonne knallt gnadenlos vom Himmel und erzeugt selbst in dieser luftigen Höhe einen Hauch von Club Mediterrane. Die riesige Schneerolle, die sich am Nordrand des Gipfel breit gemacht hat, zeigt sich davon unbeeindruckt. Weil sie 90 Prozent der Sonnenstrahlung einfach zu reflektieren vermag, darf sie sich die kleine Hoffnung wahren, diesen Sommer zu überleben und vielleicht zum Fundament eines neuen Gletschers zu werden.
Ein einsamer Mann kommt zu uns herauf. Seine vermeintlich bessere Hälfte hat er unten am Schneefeld zurückgelassen. Da war doch was... Ich könnte noch den ganzen Tag hier faul in der Sonne herumliegen, doch Michael kann es offenbar gar nicht mehr erwarten, wieder durch den kalten Schnee zu robben. Die Entspannung weicht von mir und ich gebe mich geschlagen. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend steigen wir ab und finden uns wenige Minuten später - viel zu früh - an der pathologischen Stelle wieder.

(v) Gefahrvolle Augenblicke (Reprise)
Von oben betrachtet wirkt der verschneite Kamin noch viel gefährlicher. Wir beherzigen den Rat von Rotkäppchen und Großvater und gehen die Angelegenheit auf allen Vieren an. Die Füße voraus, die Finger in den Schnee gekrallt, immer bereit, bei der kleinsten Unregelmäßigkeit das Gesicht in das kalte Nass zu drücken. Schritt für Schritt. Nicht sehen können, wo man hintritt. Mit den Füßen nach Stufen im Schnee tasten und hoffen, dass sie halten. Das zieht sich in die Länge. Bald sind meine Hände taubgefroren. Will ich sie zum Aufwärmen kurz aus dem Schnee ziehen, beginnen meine Oberschenkel wie von Spasmen getrieben zu zittern. Kälte? Anstrengung? Panik?
Michael sitzt schon zum Trocknen in der Sonne und auf halber Höhe verlasse auch ich endlich das Schneefeld und rette mich in die Felsen. Entnervt. Ohne Steigeisen werde ich dergleichen nicht noch einmal machen.
Die Hände beginnen vehement zu schmerzen, das ist ein gutes Zeichen. Nur einige Fingerkuppen bleiben weiterhin ohne Sinn. Wir begrüßen die bessere Hälfte und machen uns an den Abstieg. Der führt den bekannten Weg zurück, das ist eher langweilige Routine und so erreichen wir irgendwann am frühen Nachmittag unsere Frühstückswiese.

(vi) Der Ausklang
Kein Gedanke mehr an Leiternstress beim Toblinger Knoten, wir verplempern den Rest des Tages lieber hic et nunc mit einer Serie von 5-Minuten-Schläfchen. Das kommt meiner Vorstellung von einem Erholungsurlaub schon recht nahe. Während über uns die Sonne glänzt, ziehen von Südwesten her dicke Wolken auf. Praktische Zinnen Verzweifelt versuchen sie, uns den Tag zu verderben, verheddern sich jedoch stets in den Drei Zinnen, die wie Türme in der Schlacht jeder Angriffswelle standhalten. Ein unterhaltsames Schauspiel. Und noch ein Schläfchen...
Nach geraumer Zeit lockt das Abendessen und wir stiefeln zurück in Richtung Hütte. Auf dem Pfad unterhalb des Toblinger Knotens machen wir eine merkwürdige Entdeckung: ein schmaler Riss zieht sich mehrere Meter über den Hang. Möglicherweise eine Sollbruchstelle für den nächsten Bergsturz. Das braucht uns wohl nicht mehr zu kümmern, wir verdrücken alsbald unser obligatorisches Wiener Schnitzel (22000 L mit Beilage), das auf italienisch eigentlich ein Mailänder Schnitzel ist (bistecca alla milanese). Die Schustergrillplatte hat ihre Spuren hinterlassen: genau wie im vergangenen Jahr haben wir uns die Lippen verbrannt. Der Schmerz beim Essen stellt dabei noch das kleinste Übel dar. Schlimmer sind die nekrosen Hautfetzen, die wir uns in den Folgetagen von den verdorrten Lippen pulen dürfen.
Nach dem Essen macht sich gähnende Langeweile breit, da ich meinen den Alkohol betreffenden Vorsatz eisern in die Tat umsetze. Bei dem auf Berghütten üblichen schmalen Unterhaltungsprogramm kommt dem Nüchternen jede Minute vor wie sechzig Sekunden. Doch selbst das geht vorbei. Wir planen die morgige Tour und landen irgendwann im Bett.


4.Tag: Von der Dreizinnenhütte zur Fonda Savio Hütte

© Stefan Maday 13.08.2001