Dolomiten Report 2001
06.07.2001 Die Besteigung des Herrstein (2447m) am Pragser Wildsee
Hotel Pragser Wildsee -
Großer Apostel -
Herrstein -
St.Veith -
Hotel Pragser Wildsee
(i) Wildsee statt Firnschnee
Es ist bereits halb zwölf mittags, als wir uns vor dem Hotel am Pragser Wildsee
wiederfinden. Nicht, dass wir wegen Völlerei und nächtlicher Exzesse so lange in unseren
gemütlichen Federn gelegen hätten. Vielmehr sind wir heute morgen schon fast 3 Stunden
lang mit dem Auto in der Gegend herumgekurvt auf der Suche nach einem adäquaten Gipfelchen.
An der Talstation der Cristallobahn kurz vor Cortina d'Ampezzo wusste man zu erzählen,
dass der Lift erst ab morgen fahre und dass man in der Gipfelregion wegen des vielen Schnees
sowieso nicht viel unternehmen könne.
Schade, hatten wir uns doch für unseren letzten
Tag einen hübschen Törn über den Dibonasteig ausgedacht nebst Besteigung eines
Dreitausenderzinkens, welcher doch einen würdigen Jubiläumsgipfel (Nr.25) für mich
dargestellt hätte. So hieß es - wieder einmal - umdisponieren, die Karte auf der Motorhaube
ausbreiten und aus den vielen grauen Flecken einen als angemessenen Ersatz auswählen.
Schließlich landete Michaels Finger auf eben jenem kleinen blauen Etwas am Nordrand der
Pragser Dolomiten mit angeschlossenem Zweitausender - genannt Herrstein (Sasso di Signore).
Der Pragser Wildsee (Lago di Braies) präsentiert sich uns als ein wirklich idyllisches
Gewässerchen mit klarem, blaugrünem Wasser und in drei Himmelsrichtungen umsäumt von
den steilen Bergen der Pragser Dolomiten. Auf knapp 1500m Seehöhe gelegen, bietet er ein
angenehmes Klimat für Seeumrunder und Tretbootkaleuns.
(ii) Apostolo Grande - ein Hauch von Italien
Wir umkurven den kleinen Nordzipfel des Sees und kehren seinem Ufer bald den Rücken,
denn unser Weg mit der Nummer 58 führt uns direkt in den Wald hinein. Beim ersten geringen
Anstieg tropft uns bereits der Schweiß in der Mittagsschwüle.
Wir entschließen uns,
oben ohne weiterzustiefeln. Das schont die Kleidung und ergibt dank der Rucksackriemen
attraktive Sonnenbrandmuster auf der Haut. Der Wald weicht schließlich einem weißen
Schotterfeld und wir gönnen uns die erste Trinkpause.
Hinter dem großen Einzelkämpferbaum beginnt die Nordwand der Apostelkette, in der sich der
Pfad allmählich in Ost-West-Richtung aufwärts windet. Die Strecke stellt keine besonderen
Ansprüche an den Berggeher, lediglich an einer Stelle wird uns etwas mulmig: über
uns vernehmen unsere Lauscher ein verdächtiges Geriesel, und als wenig später neben uns
kleine Steinchen einzuschlagen beginnen ist alle Müdigkeit mit einem Male weggefegt und
wir beschleuingen unseren Schritt vehement. Wie wir später feststellen werden, befindet
sich oberhalb der Wand ein 45 Grad steiler Schotterhang und wir können uns lebhaft
vorstellen, wie instabil so eine Rampe ist. Da mag schon ein Hüsterchen ausreichen
und ab geht die Post.
Schweißgetränkt betreten wir schließlich einen kiefernüberwucherten Sattel. Nach rechts
führt ein Trampelpfad zum Gipfel des Großen Apostel (1995m) hinüber, der nur einen halben
Steinwurf entfernt liegt. Auf der Sitzbank stehend genießen wir den schwindelerregenden
Ausblick auf den 500m unter uns liegenden See.
Das ist er also, mein 25. Alpengipfel, fast schon über der Baumgrenze...
nicht gerade einer, von dem ich meinen imaginären Enkeln berichten müsste...und doch
eigentlich ein ganz gemütlicher.
Bis zum Pass am Fuße des Herrstein haben wir noch 200Hm netto zurückzulegen und diese
erweisen sich in der drückenden Hitze als äußerst beschwerlich. Lästige Insekten
besummen uns und das mediterrane Kiefergestrüpp schrammt an unserer Haut herum,
während wir uns den ausgetretenen Pfad im Schneckentempo hinaufquälen. Unsere Wasservorräte
haben sich bereits bedenklich verknappt. Das vermeintlich nahe Rauschen eines Baches
enttarnt sich als akustische Fata Morgana.
Endlich weicht die Vegetation
dolomitösem Schotter, wir entdecken gar ein wenig Schnee und haben irgendwann
- wer zählt schon die Minuten - den Weisslahnsattel (Sella Lavina Bianca, 2194m)
erreicht.
Wir werfen einen Blick auf die Südseite des Herrstein, dessen Gipfel immer noch steile
250Hm von uns entfernt liegt. Plötzlich macht sich seitens der Opposition heftige
Kritik an der Sinnhaftigkeit der Besteigung breit, mit anderen Worten: Michael hat keine
Lust mehr. Hört er denn das Rufen nicht? Sind wir soweit vorgedrungen, um im Angesicht
des Ziels aufzugeben? Ich jedenfalls fühle mich bei meiner Masochistenehre gepackt.
Ein wenig Kalkül
ist natürlich auch dabei. Sollte es tastächlich einen Gott geben, so könnte man
die Option auf ein wohltemperiertes Jenseits doch gewiss ein wenig vergrößern,
indem man unter schlimmsten Entbehrungen auf seinen ureigenen Stein pilgerte.
Für lange Dispute sind wir viel zu müde und gelangen deshalb zu einem schnellen Konsens:
ich werde solo hochsteigen, während Michael die verantwortungsvolle Aufgabe obliegt,
das Basislager zu bewachen und die Grasmatten auf ihre Elastizität hin zu testen.
Eine Stunde bis anderthalb werde ich wohl benötigen. Sollte ich länger fortbleiben,
dann hätten wir beide ein kleines Problem.
(iii) Die Besteigung des Herrstein (2447m)
Da der Anstieg sich anfangs nur mäßig steil den Hang durch Kiefergestrüpp hinaufschlängelt,
gehe ich selbigen ziemlich forsch an. Zu forsch, denn bald schon droht mir die Puste
auszugehen. Im mittleren Drittel wird es steil und äußerst rutschig. Ich muss meine
Stöcke immer wieder tief in die Humusschicht rammen und mich selbst auf kraftraubende
Art und Weise hinterherziehen. Im oberen Drittel dominiert endlich fester griffiger Fels.
Ich arretiere die Stöcke am Rucksack, denn hier ist des öfteren Handarbeit angesagt.
Nach etwa zwanzig Minuten bin ich an einer Felsmauer angekommen. Vor dem Überwinden
mache ich zum letzten Mal Winki-Winki zum Michael, danach verliere ich den Sichtkontakt
mit dem Basislager.
Jenseits der Mauer angelangt ist meine Verwirrung groß: vom ersehnten Gipfel
fehlt jede Spur. Der schmale Pfad windet sich ebenerdig um mehrere Felsblöcke herum und
schlüge mir das Herz nicht schon bis zum Halse, so würde mich der gähnende Abgrund
unter mir zur Langsamkeit ermutigen. Die Dolomiten haben in ihrer
Entwicklungsgeschichte besonders viele schroffe Klippen hervorgebracht,
doch dank des hellen Gesteins wirken diese nicht gar so düster und bedrohlich wie
andererorts in den Alpen. Durch die gute Ausleuchtung hat man zumindest nicht dieses
unangenehme Gefühl, im Ernstfall von einem schwarzen Loch verschluckt zu werden.
Das sollte aber noch lange kein Grund sein, übermütig zu werden.
Endlich kommt der Gipfel in Sicht, rund wie ein Pudding und umsäumt von einem steilen Felsband.
Die Seilsicherung
nutzt mir herzlich wenig, denn meine Kletttersteigtakelage liegt beinahe 1000 Meter
tiefer im Kofferraum des Wagens. Doch die abgewetzten Felsen verraten mir, dass die
Ideallinie sowieso um ein gutes Stückchen links vom Seil liegt. Vorsichtig ziehe ich
mich die wenigen Meter hinauf, laufe erstaunt noch eine kleine Wiese hinauf
und stehe alsbald auf dem Gipfel des Herrstein.
Ein Blick auf die Uhr: exakt eine halbe Stunde habe ich gebraucht.
Ich entlocke meiner ausgedörrten Kehle einen krächzenden Jodler als Gruß an den
Zurückgebliebenen und gebe mir selbst 10 Minuten Zeit für das Gipfelglück-Management.
Die Aussicht ist schnell abgehakt, zu waschküchig ist die Atmosphäre, als dass ich mir
irgend etwas genauer betrachten wollte. Wenigstens ist von dem befürchteten Gewitter
weit und breit nichts zu sehen. Das Gipfelkreuz ist relativ neuwertig, aus Metall, sehr schön,
auch ein Sponsorenschild fehlt nicht.
Das Beweisfoto mit Selbstauslöser ist obligatorisch. Ebenso das Zigarettchen, sobald
der Puls nicht mehr gar so sehr flattert.
Schließlich kann ich der Versuchung nicht widerstehen, meinen Namen in den hölzernen
Sitzbalken zu kratzen, der wohl einst der Längsbaum des ursprünglichen Kreuzes war.
Viele Markierungen habe ich während
der letzen Tage in den Dolomiten hinterlassen. Sie alle zeugen von meiner Existenz,
meinen Hoffnungen, meinen Wünschen und meinen Taten. Doch wird nur diese eine länger
bestehen als bis zum nächsten Regenschauer.
Während des Abstieges habe ich zwanzig Minuten Zeit, meinen überstürzten Aufbruch
vom Gipfel zu bereuen. Das ging alles viel zu hektisch vonstatten, eigentlich hätte ich
den Michael ein wenig schmoren lassen sollen. Gelohnt hat sich der kleine Abstecher jedoch
allemal. Ein interessanter Gipfel, nicht zu einfach, nicht zu schwer. Wie für mich
und den heutigen Tag gemacht.
Im Mitteldrittel der Südwand stolpere ich beinahe meiner
eigenen Schotterlawine hinterher. Erst im letzten Augenblick finde ich Halt und Gleichgewicht
wieder. Das Schicksal meint es bekanntlich gut mit Helden, Kindern und Dummköpfen.
(iv) Das Ende
Michael hat sich während der letzten Stunde im Basislager ausgiebig erholt und angeödet.
Wir meditieren noch ein wenig über der Frage, ob der formlose Klotz weit im diesigen
Osten vielleicht unsere gute alte Schusterplatte sein könne. Im Südosten machen wir
eine Gestalt auf dem nahegelenen Gipfel des Großen Rosskofl (2559m) aus. Dieser wäre vielleicht
auch ein lohnenswertes Ziel für uns gewesen, doch jetzt hören wir kein Rufen mehr.
Wir brechen auf. Der Abstieg führt uns über den 26er durch ein nicht enden wollendes
Schotterfeld. Ein Bach rettet uns vor der Dehydration und nach zahlreichen
Serpentinenkilometern begrüßen wir einen Senioren-Highway, der uns um den Seewald
herumführt, uns kurz einmal in St.Veith ausspuckt und uns endlich bleierner Beine zum Pragser
Wildsee zurückbringt. An dessen Ufer ist es mittlerweile einsam geworden,
sechseinhalb Stunden nach unserem Abmarsch heute mittag. Auch auf die Gefahr hin, ein
katastrophales Artensterben anzustoßen, lassen wir es uns nicht nehmen, unsere
Stinkfüße im kalten Wasser zu baden. Was kümmert's uns, schon morgen hat uns die
Realität wieder und das Wunderland wird nur noch in unserer Vorstellung weiter existieren.
Mein spezieller Dank gilt Michael und der
Kontinentalverschiebung, denn ohne die beiden wäre dieser Urlaub so nicht möglich gewesen.
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