Ortler Report 2006
2.Tag: Tschenglser Hochwand (3375), der erste 3000er – 5.8.2006 Am
Morgen lässt sich König Ortler gegenüber des Tales blicken.
Der fast 4000 m hohe Riese strahlt im Morgenlicht. Bei der ersten Zigarette
hole ich mir fast Erfrierungen. Stefan freut es sichtlich, dass er
als Nichtraucher heute nicht leiden muss. Wir genießen um 7.00
Uhr ein gutes Frühstück und erkundigen uns beim Hüttenwirt über
Wetter- und Wegverhältnisse. Er scheint nicht ein Mann klarer
Worte zu sein, legt sich über Weg-Zustand und Wetter ungern fest,
aber es „soll wohl schöner werden“. Irgendwann. Es
sei noch niemand nach dem Neuschnee oben gewesen, daher könne
es etwas schwierig sein. Wir starten also, um unseren diesjährig
ersten 3000 zu ersteigen. Dazu haben wir ausgerechnet den Zungenbrecher
Tschenglser Hochwand gewählt. Sie gilt als Nonplusultra für
trittsichere Wege-Bergsteiger. Mit 3375 m einer der höchsten Gipfel
rund um die Hütte. Die Spannung am Morgen ist groß. Starten
wir doch in eine uns unbekannte Region. Alleine, fort von allem uns
Bekannten und Sicheren.
Der Zugang zur Hochwand begeistert durch seine Vielfalt, malerisch
sind die Blockfelder mit Riesentrümmern bis zur Hausgröße.
Der Höhenweg Nr. 5 schlängelt sich durch gewaltiges Blockwerk
und Geröll, das einst große Gletscher als Moränen liegen
ließen. Am kleinen See „Seenlin i Laghetti“ gabelt
sich der Pfad laut Karte. Heute sehen wir hier nur eine Fußspur – und
die zeigt in Richtung Angelusspitz und Schafbergspitz (Weg 5a). Im
Neuschnee haben wir es schwer Wegmarkierungen zu finden. Dieses heitere
Suchspiel soll uns leider bis zum Gipfel erhalten bleiben.
Mit jedem Höhenmeter scheint der Schnee tiefer zu werden. So
hangeln wir uns von einer Markierung zur nächsten. Drei weitere
Bergsteiger folgen uns stetig auf Abstand – das ist ja auch leichter.
Am Einstieg des Klettersteigs „hagelt“ es Eiszapfen, die
sich in der zarten Morgensonne weit oben lösen. Der vom Hüttenwirt
persönlich angelegt Steig wäre mörderisch. Alternativ
führt der steile Serpentinenweg durch eine Geröllrinne zur
Scharte am Südwest-Grat. Schneefrei gut markiert, bei Neuschnee
kaum auszumachen. Die Chance auf den heutigen Gipfel schwindet – ähnlich
wie die Kraft, denn Schnee und Wegsuche wirken nun doppelt anstrengend – oft
finden wir nicht den ursprünglichen Weg, steigen einfach die Rinne
bestmöglich nach oben. Was zunehmend auch in Kletterei durch Schnee
und Eis übergeht.
Der Gipfelaufbau lässt jetzt echte Spannung aufkommen. Zum Außergewöhnlichen
gehört der ständige Blick auf die berühmten Nordwände
von Ortler (3899m) – heute, Anfang August, alles in weiß gehüllt.
Nach zwei Stunden machen wir Pause und lassen die Gruppe vorbeiziehen,
damit diese ab jetzt die Vorarbeit leisten kann. Weiter folgen wir
dem Pfad über den steilen Grad, wo wir immer wieder die Hände
brauchen, um einzelne Stellen zu überwinden, oder teilweise auch
freihändig über schmale vereiste Gräte balancieren müssen.
Eine heikle Sache. Jeder Tritt musste hier sitzen. Trotz mulmigem Gefühl
im Magen treibt uns das sichtbare Gipfelziel weiter. Unwiderstehlich
die Anziehungskraft. Jetzt nicht mehr zurück.
Schließlich überwinden wir zwei ansonsten leichte Klettersteigpassagen.
Heute durch Schnee und Eis zwar erschwert aber mühelos und ungefährlich,
dank Sicherungen am Drahtseil. Solche Kletterstellen sorgen immer für
zusätzliches Adrenalin und steigenden Puls. Das aber wiederum
für neue Energie. Die letzten Meter zum Gipfel lassen auf glitschigem
Schnee und Fels ohne Sicherung das Adrenalin steigen. Nach vier Stunden
haben wir den höchsten Punkt erreicht.
Das Gipfelerlebnis ist gewaltig. 2500 m überragt das breit gelagerte
Felsmassiv den Vinschgau, 600 m ist die Nordwand, 300 m die Südflanke
hoch. Und die Grate strotzen von wilden Felszacken. Die waagerechten
Eiszapfen am Gipfelkreuz verraten, welch kalte Stürme hier herrschen.
Die Aussicht ist grandios – auf die Eisriesen Ortler, Monte Zebru
und Königsspitz, auf die 500 m hohe Nordwand der Vertainspitze
mit ihrem Hängegletscher sowie auf die Steilabbrüche des
Gletschers der Großen Angelusspitze. Zum Greifen nah lassen sich
jede Eiswulst, jeder mit Neuschnee gezuckerte Felssporn mit bloßem
Auge erkennen. Gen Norden dann der Tiefblick in den sommerlichen Vinschgau. Überwältigend!
Und überwältigend das Gefühl, nur durch eigene Kraft
diesen Koloss bezwungen zu haben.
Nach ausgiebigem Beglückwünschen mit Handshake, Gipfel-Foto-Shooting,
Pausensnak mit Wasser, Keksen und Zigarette treten wir vor den anderen
Bergsteigern – Tschechen, wie sich herausstellt - wieder den
Abstieg an, um die Kletterstellen in unserer Geschwindigkeit gehen
zu können. Beim Aufstieg haben uns die Tschechen hier aufgehalten
und für unkomfortable Warterei im Steilhang gesorgt. Die Kletterstellen
wirken von oben furchterregend, sind aber leichter im Abstieg passierbar.
Der Schnee wird arg sulzig, die Trittsicherheit lässt nach, und
das Bombardement mit Eiszapfen wird teils gefährlich. Wir begegnen
einer weiteren Gruppe beim Aufstieg, die uns danken, dass wir den Weg
gespurt haben. Nach nur 2 h sind wir wieder am Seenlin i Laghetti,
wo sich alsbald auch die Tschechen zu uns gesellen – im Rausch
des Gipfelsturms plaudern wir fröhlich miteinander – wir
haben es geschafft – die Tschenglser Hochwand sollte unser bisher
höchster und schwierigster Berg der Ortler-Tour bleiben.
Bis zur Hütte, wo Südtiroler Köstlichkeiten für
die Anstrengung belohnen, ist es jetzt ein halbstündiges Kinderspiel.
Auch Stefan ist sichtlich erleichtert und entspannt auf seine Weise.
Die spätere Freude bei Rückkehr zur Hütte ist noch größer.
Vermutlich ist es die Freude, der Gefahr getrotzt zu haben, gesund
zurückzukehren – oder ganz einfach die Entspannung nach
stundenlanger Anspannung – die Gelöstheit nach dem „Kick“.
Der Wirt der Düsseldorfer Hütte kennt die Geschichten, die
abends bis in seine Küche vordringen, während er südtiroler
Köstlichkeiten kredenzt. Die Gipfelstürmer reflektieren das
Erlebte, der eine lautstark, der andere ruhig in sich gekehrt – aber
alle mit zufriedenem Lächeln. Alles ist vergessen. Nur das hier
und jetzt zählt. Job, Heimat, Familie - alles weit weg hinter
den Bergen. Radler und Schnitzel schmecken uns heute besonders gut.
Bald träumen wir vom König Ortler und seinen vielen Genossen
drum herum, die wir alle bezwingen wollen.