Dolomiten Report 2004
6. Tag: Tagestour: Heiligkreuzkofel (2908m)
Erst beim Frühstück in unserer Pension in San Cassiano schaffen wir es endlich, uns für einen würdigen Endgegner zu entscheiden. Die Wahl fällt auf den Heiligkreuzkofel, jenes kleine Sahnehäubchen auf dem faszinierenden Ringwall des Kreuzkofelmassivs, auf dessen Besteigung wir im letzten Jahr wegen schlechten Wetters verzichten mussten. Leider sind die Frühstückszeiten in den meisten Pensionen recht spät, dazu müssen wir noch packen und uns über die Aufstiegsroute streiten. Ich bevorzuge die Klettersteig-Variante quer durch die Westwand, Michael den Schotterkar hinauf zur Medes-Scharte.
So ist es bereits halb elf, als wir mit freundlicher Unterstützung der Kreuzkofelbahn auf 2045m über NN am Hospiz stehen. Eingedenk der jetzt schon tief stehenden Wolken entscheiden wir uns für die längere "Idioten-Tour" durch den Schottertrog. Angesichts der senkrechten Mauer vor uns fällt es mir auch schwer zu glauben, dass dort irgendwo ein halbwegs regensicherer Weg hinaufführt. Wir halten uns an den Weg Nummer 15, der an der großen Baustelle vorbei durch einen kargen Wald nach Süden führt. Konzentrisch zum Ringwall windet sich der Weg, bis wir uns nach etwa 40 Minuten an einer leicht zu übersehenden Abzweigung links halten. Nach insgesamt einer Stunde finden wir uns endlich am Fuße der gigantischen Geröllrampe, ohne eine einzigen Höhenmeter gut gemacht zu haben.
Etwa 550Hm liegen vor uns bis zum Pass. Der Schutthang verläuft mit jedem Meter steiler und der Schotter wird nach oben hin immer feiner und schlüpfriger. Auf der allerletzten Etappe verliert sich der Weg vollständig - hier ist unkontrolliertes Krabbeln, Rutschen und Um-sich-Treten angesagt. Dieses Erlebnis hätte ich gerne gegen den Klettersteig eingetauscht. Nach anderthalb Stunden Aufstiegszeit erreichen wir glücklich die Scharte (2591m) und wir dürfen zum ersten Mal einen Blick in das Innere des Kraters werfen. Auf dem Kamm in Richtung Norden reihen sich die Gipfel von Heiligkreuzkofel, Zehnerspitze und Neunerspitze eindrucksvoll auf. Der Boden ist grüner, als man von einem Mondkrater allgemein erwartet und bildet tatsächlich eine große Alp.
Der offizielle Weg führt nun in Richtung Nordosten zu dieser Alm hinunter. Das erscheint uns ein unnötiger Um- und Abweg. Wir folgen lieber einigen alten Markierungen und Trittspuren, die sich den Hang enlang ziehen, sich aber bald verlieren und nach einigen Wirrungen müssen wir schließlich doch ganz hinunter steigen. Neben Grasmatten machen sich löcherige Kalkplatten auf dem Boden breit. Die anscheinend bodenlosen Minidolinen erweisen sich als gefährliche Stolperfallen.
Schließlich erreichen wir wieder den Grat. Ein Blick auf die Uhr mahnt uns zur Eile. Eine erste Hochrechnung ergibt, dass wir knapp dran sind, wenn wir die letzte Bahn ins Tal heute abend noch erwischen wollen - die, wie wir gelesen zu haben glauben, um 18 Uhr geht. Wir beschließen eine "Blitzbesteigung" und machen von nun an "Speed". An unbeschreiblichen Abgründen vorbei ächzen wir auf den Gipfel zu. 300Hm, zumeist über Schotter, technisch nicht im geringsten anspruchsvoll, doch die Pumpe leistet Schwerstarbeit.
Endlich oben! Wir erproben unsere neue Zeremonie: Shake Hands. Klappt auf Anhieb. Durchatmen. Die Aussicht genießen - soweit die Wolken es zulassen. Blick auf die Varella (3034m) - ein leichter und interessanter Dreitausender. Nebenan die Zehnerspitze (3023m) - nur einen kleinen Klettersteig entfernt. Für uns heute zu weit. Wir müssen den Abstieg in weniger als drei Stunden schaffen, andernfalls erwarten uns noch einmal knapp 700Hm als Zugabe. Die letzten Schokoriegel essen. Und wieder los. Wir geben mächtig Gas, machen nur am Medes Pass eine kurze Pause, stolpern die Schotterrampe hinunter. Auf dem finalen Waldstück folgt ständig der Blick auf die Uhr - "Los, das können wir noch schaffen!" Immer schneller, die Füße laufen von alleine, hüpfen über Steine und Wurzeln, bevor sie das Bewusstsein überhaupt wahrgenommen hat. Eine Art von wahnsinniger Trance. Werde ich jemals wieder anhalten können? Das Kloster ist in Sicht. Es beginnt zu hageln. Ich fingere meine Regenjacke aus dem Rucksack, Michael rennt an mir vorbei zur Bahnstation, als die Glocke des Hospiz sechs Uhr schlägt. Zu spät? Einmal gestoppt, kann ich plötzlich nicht mehr laufen. Michael kommt zurück, meint, die letzte Bahn sei schon vor fünfzehn Minuten gefahren. Die ganze Rennerei vergebens. Zwei weitere Stunden Abstieg mit schmerzenden Knochen scheinen unausweichlich. Ein Jeep kommt vom Hospiz herunter. Ich halte den Daumen raus. Der Jeep hält an. Drei Lolitas sitzen drin. Uns kümmert es nicht, dass die Fahrerin noch viel zu jung für einen Führerschein aussieht. Sie nimmt uns mit nach Pedraces. Wie so oft waren unsere Mühen auch diesmal nicht umsonst.