Dolomiten Report 2004
3. Tag: Vom Grödner Joch über Große Cirspitze (2592m) zur Puez-Hütte
Noch gestern abend sind wir mit dem Wagen nach St. Christina gefahren, um dort wie vornehme Menschen zu duschen, Pizza zu vertilgen und unter sauberen Bettdecken zu nächtigen. Bei der Frage, was man denn nun mit dem Rest des Urlaubs anfangen solle, erinnerten wir uns des Grödner Jochs, das wir vor vier Jahren bereits passiert hatten und der vielen Attraktionen, die wir damals aus zeitlichen und konditionellen Gründen auslassen mussten. Wir beschlossen also zunächst eine zweitägige Tour über die Puez-Hochebene mit der Intention, diesmal alle Gipfel mitzunehmen, die wir bei unserem ersten Besuch links liegen gelassen hatten.
Nachdem wir Michaels Wagen mit einem etwas mulmigen Gefühl auf dem Parkplatz am Grödner Joch (2124m) sich selbst überlassen haben, machen wir uns sofort an die Hauptattraktion des Passes heran: den nur gut 400m oberhalb der Straße thronenden Gipfel der Großen Cirspitze (Gran Cir, 2592m). Der Wetterbericht verspricht wiederum Dolomiten-Standardsommerwetter: Sonne am Morgen mit im Tagesverlauf stetig zunehmender Bewölkung, die ab dem Nachmittag in Blitz und Donner kulminieren dürfte.
Der Aufstieg zur Cirspitze verläuft denkbar einfach. Erst einmal über einen Kiesweg, dann durch einen schottrigen Kar, der glücklicherweise zu dieser Stunde noch teilweise im Schatten liegt, denn ins Schwitzen gerät man allemal. Es folgt ein Klettersteig. Wir folgen dem Beispiel einiger anderer Berggänger und legen unsere KS-Ausrüstung an - wohl ahnend, dass wir sie kaum ernsthaft benötigen werden. Abgesehen vom Helm vielleicht. Eine rutschige Rinne bildet den Einstieg. Es folgen einige kurze Krabbelpassagen und schließlich ein weiteres gesichertes Stück. Der Weg scheint sich wie ein Korkenzieher den Hang hinauf zu arbeiten. Eine Menge Leute kommen uns bereits von oben entgegen, Zeichen dafür, dass wir spät gefrühstückt haben.
Nach etwa einer Stunde erreichen wir den Gipfel, auf dem ein ordentlicher Rummel herrscht. Plappernde Menschen, surrende Kameras und knisternde Power-Riegel-Verpackungen lassen auf einem solchen Pass-Panorama-Berg natürlich niemals auch nur einen Anflug von Beschaulichkeit aufkommen.
Immerhin bietet sich uns eine schöne Aussicht auf das Puez-Hochland, das bis auf ein paar winzige weiße Flecken schneelos ist. Welch ein wohltuender Anblick nach der Altopiano della Pala-Show. Am Nordrand erhebt sich der Zwillingsgipfel der Puezspitze (Cima Puez, 2913m), den wir uns für morgen vorgenommen haben.
Der Abstieg führt über den bekannten Weg. Erwähnenswert ist nur, dass uns auf dem Klettersteig ein nervöser Alpenjogger überholt. Der böse Schubiak zeigt dabei wenig Rücksicht gegen andere und erst gar keine wider sich selbst. Mehrmals rutscht er aus und man wundert sich, wie er bei dem Stil überhaupt wieder lebendig im Tal ankommen will.
Leider müssen wir die Höhendifferenz, die wir eben zur Cirspitze hinauf überwunden haben, nun wenige hundert Meter weiter östlich annähernd noch einmal bewältigen - hinauf zum Cirjoch (Passo Cir, 2469m). Statt der altbewährten Taktik, die stets darin bestand, zehn Meter zu rennen und dann solange röchelnd stehen zu bleiben, bis der Puls wieder unter 150 Schläge gesunken war, versuchen wir es heute mit einer neuen Variante: im aeroben Bereich langsam und beständig unter Beibehaltung der normalen Atemfrequenz aufsteigen. Das schont die Reserven, erfordert aber auch eine Menge Reife und Selbstdisziplin, weshalb wir erst mit Mitte dreißig auf diese Idee gekommen sind.
Auf dem Pass bullert die Sonne und ich bemühe mich peinlich, mein zerschundenes Gesicht vor ihr zu verbergen. Neidisch beäugen wir einen Bergsteigerkollegen, der sich genüsslich ein Dosenbierchen
reinpfeift. Wir beschließen feierlich, dass dieses auch unsere allererste Amtshandlung bei Erreichen der Puezhütte sein soll.
Nach Durchquerung einer kleinen Talsohle erreichen wir das Crespeinajoch (2528m) mit Blick auf den See. Ein steiler Abstieg bringt uns auf die Ebene hinunter. An der Forcella de Ciampac werfen wir einen Blick nach Südosten und unser morgiges Ziel: den kess über dem Tal prangenden Gipfel des Sassongher (2665m).
Der Himmel hat sich fast unbemerkt zugezogen. Auf den letzen Metern zur Hütte beginnt es zu rumpeln und zu tröpfeln. Michael treibt zur Eile. Ich erwische mich bei dem Gedanken, dass so ein Gewitter doch mal ein nettes Abenteuer darstellen würde. Was sollte einem mit Helm und Regenjacke schon ernstes widerfahren können? Doch erreichen wir die Hütte noch trockenen Fußes und genießen auch sogleich das wohlverdiente Radler auf der Terrasse. Mit einem Mal beginnt es zu rappeln und zu rauschen. Zwei Wanderer rennen vom Kamm aus Richtung Puezkofel wie von der Tarantel besprungen zu uns herunter. Erbsengroße Hagelkörner krachen auf die Terrasse, begleitet von einem donnernden Crescendo. Das hätte ich dann doch nicht draußen hautnah miterleben wollen!
Das Schauspiel hält nur wenige Minuten an - ebenso wie unsere Drinks. Wir beziehen unsere Betten und machen es uns dann in der Gaststube gemütlich. Der Wirt, den wir von unserer ersten Dolomitentour noch kennen, hat in den wenigen Jahren viele Haare verloren und scheint mächtig gealtert. Ob es daran liegt, dass man ihm mittlerweile eine Frau als Kollegin vorgesetzt hat?
Es wird Gulasch gereicht, bezahlt werden muss im Voraus. Nach reichlich Rommée und Radler ziehen wir uns in unser Gemach zurück. Die 8 bis 10 amerikanischen Zimmerkumpels pennen zum Glück schon.