Die Alpbach Chronik 1999

24.09.1999 Übers Krinnjoch zur Sagtalerspitze

"Da war er doch neulich erst!", wird der aufmerksame Leser einwenden. Gewiß, doch wegen des großen Erfolges geht es diesmal mit umgekehrtem Vorzeichen und ohne Gondelbahn- Schmufix, sondern rechtschaffen vom Tal aus ("from scratch").
Das Wetter paßt wie immer in diesen Tagen, und mit üppigen Vorräten ausgestattet, düse ich durch den Greiter Graben. Hinter der Greitalm sitzt ein bärtiges Orakel auf einem umgelegten Baumstamm und prophezeit mir, daß ich bei meinem Tempo nicht weit kommen werde. Darauf entgegne ich, daß ich im Schneckentempo erst recht nicht weit käme.
Noch vor der Farmkehralm zweigt rechts der Pfad zum Krinnjoch ab und ich gewinne endlich an Höhe. Ein Trecker kurvt neben mir herum und versprüht Gülle. Der entsetzliche Gestank motiviert mich, den Hang möglichst schnell zu erklimmen. Ein schöner Weg, kein Baum in der Nähe.
Mal ehrlich: so ein Wald verlangt dem Wanderer viel ab und spendet ihm doch nichts außer ein wenig Schatten. Feuchtigkeit, Wurzeln als fiese Stolperfallen, Myriaden von Insekten und das Fehlen jeglicher Aussicht ließen mich schon auf vielen Touren die Baumgrenze herbeisehnen. Es geht doch nichts über nackten Fels.
Den Tristenkopf immer zur Linken, geht es über ein Schotterfeld und schließlich nochmals steil aufwärts zum Joch. Da ich gut in der Zeit liege, kann ich mich oben noch ein wenig umsehen. Blick auf den Tristenkopf vom Krinnjoch aus Vielleicht gelingt es mir heute, einen Weg auf den Tristenkopf zu finden. Nach Osten führt ein kaum zu erkennender Trampelpfad am Zaun entlang in Richtung Gipfel. Ich folge ihm, doch der Pfad verliert sich bald im dichten Heidekraut. Nach ein paar quälenden Metern gebe ich mein Vorhaben auf. Ein Weitergehen scheint sinnlos, ich würde sowieso nur unter einer Steilwand landen. Aber irgendwie muß es gehen, immerhin besitzt der Bursche ein Gipfelkreuz! Allerdings kennt die Karte keinen Weg hinauf und in den einschlägigen Wanderführern wird der Berg nicht einmal erwähnt. Dieses Rätsel werde ich wohl nicht mehr lösen können. Bevor ich den ganzen Tag mit der Suche nach einem Phantom verschwende, lasse ich Plan A wieder in Aktion treten: die Besteigung des Gamskopfes und die nachfolgende Achterbahntour über den Gamssteig.
Zunächst geht es den steilen Hang hinauf, eine regelrechte Tortur, gefolgt vom nur noch langsam ansteigenden, aber teilweise sehr engen Grat. Auf dem Gipfel des Gamskopfes sieht es genauso aus wie noch vor einer Woche, nur daß heute keine Menschenseele zu sehen ist.
Nach Westen zieht sich die Kette von kleinen Gipfeln bishin zur Sagtaler Spitze. Alle werden durch den Tapenkopf locker überragt, obwohl der, laut Karte, nur einen Meter höher liegt als mein derzeitiger Standpunkt. Wenn das der Platin-Iridium-Stab in Sevres wüßte (das Urvieh unter den Metern)!
Mittlerweile vermag ich Höhenunterschiede einigermaßen abzuschätzen. Der Tapi scheint mir ein typischer 2261er zu sein. Blöde Karte! Blick vom Gamskopf auf den Tapenkopf Der Weg dorthin erweckt in mir keinerlei Erinnerung an meine frühere Begehung, aus anderer Richtung sieht alles vollkommen anders aus. Hier und da beschleicht mich gar das merkwürdige Gefühl, daß dieser Pfad nur für eine einzige Richtung "entworfen" wurde, und zwar die zum Krinnjoch hin. Von meiner Warte aus sind Farbmarkierungen schwer auszumachen und manchmal bleibe ich unschlüssig stehen, weil ich nicht gleich überblicken kann, wo es denn nun weitergeht. Kurz vor dem Tapenkopf geschieht mir dann auch ein unangenehmes Mißgeschick. Vor mir türmt sich unversehens eine mehrere Meter hohe Felswand auf. Nach links läßt sie sich nicht umgehen, dort geht es steil abwärts und keinerlei Fußspuren sind zu erkennen. Rechtsherum führen einige Trampelspuren.
Ich folge diesen mit äußerster Vorsicht und einem mulmigen Gefühl: ich kann mich nicht erinnern, daß mich der Weg damals an irgendeiner Stelle über den Nordhang geführt haben soll. Ich betrete einen schmalen, etwa drei Meter langen Sims. Unter mir geht es wenigstens hundert Meter steil in die dunkle Tiefe. Ich drücke mich an die Felswand, meine Hände klammern sich an Felsvorsprünge. Der Sims ist teilweise mit Gras bewachsen und während ich mich langsam vorantaste, bemerke ich: das Gras ist naß. Meine Schuhe finden kaum Halt (koan Grip, wie es im Jargon heißt). Sonnenabgewandte Hänge sind im Herbst trotz Sonnenschein gerne naß oder gefroren. Eine gemeine Wandererfalle.
Adrenalin schießt durch meinen Körper. Ich realisiere, daß dieses Unterfangen lebensgefährlich ist. Wieder diese unkontrollierten Gedanken! Wie es wohl ist, auszurutschen und herunter zu stürzen? So nahe wie jetzt war ich noch nie dran! Also schnell zurück! Augen zu und durch! Nein, keine Panik! Das muß langsam gehen. Noch vorsichtiger als eben hangele ich mich wieder um den Felsen herum bis zum Ausgangspunkt. Ich merke, wie mein Herz fast schmerzhaft hämmert, doch nicht vor Anstrengung.
Ich inspiziere nochmals die Felswand, die mich in die Irre geleitet hat, und entdecke Trittklammern aus Stahl. Ein Klettersteig! Den hatte ich total übersehen, wahrscheinlich war ich zu sehr auf meine eigenen Füße fixiert.
Das hätte ganz schön ins Auge gehen können. Beinahe hätte das Orakel recht behalten. Zwei Fragen bleiben offen: welcher Irre hat die Spuren auf dem Sims hinterlassen (wenn das überhaupt ein Mensch war) und wo ist er gelandet?
Der Klettersteig markiert bereits den Anstieg zum Tapenkopf. Nach kurzer Pause geht es weiter zur Sagtaler Spitze, über den weitaus harmloseren der beiden Teilabschnitte.
Meine dritte Besteigung der Sagtaler Spitze und endlich bin ich mal alleine oben. Ich genieße die letzten Sonnenstrahlen beim Anblick der Zillertaler Alpen. Allen voran der Große Löffler oder "The Great Spooner", wie ihn die Australier nennen.
Da erblicke ich den ersten Menschen seit gut drei Stunden. Ein junger Spund läuft unten an der Spitze vorbei und entert den Gamssteig. In atemberaubenden Tempo joggt er über den Pfad. Ich sehe auf die Uhr. Nach nicht einmal einer Viertelstunde steht er auf dem Tapenkopf und läßt einen freudigen Jodler raus. So etwas gibt es also wirklich!
Jetzt heißt es Abschied nehmen und einen geeigneten Rückweg finden, denn meine kleine Abgasschleuder steht noch in Inneralpbach. Ich steige über den altbekannten Osthang ab und wende mich nach Norden auf das Wiedersberger Horn zu. Bald geht rechts ein Pfad ab, der mich runter in den Greiter Graben bringt. Meine Wanderkarte kennt diesen Weg wiederum nicht, mittlerweile habe ich mehr Wege selbst eingezeichnet als Wege abgedruckt sind.
Nach insgesamt sechsdreiviertel Stunden habe ich den Kampf gegen die Dämmerung mal wieder knapp gewonnen.

Fazit: anstrengender als die Hintour und nicht jeder Weg führt zum Ziel

Unterhaltungswert:   Schwierigkeitsgrad: 


29.09.99 Torkopf (2116m)

© Stefan Maday 5.10.2001